Der Geschmack von Glück (German Edition)
die die kleine Stadt durchpulste. Sie waren Drehorte wie Los Angeles oder New York gewohnt, wo die Leute einen weiten Bogen um jedes Filmteam machten und grummelten, weil der Verkehr verstopft und ihre Parkplätze belegt waren, wo sie den Kopf über die riesigen Scheinwerfer schüttelten, die ihre Dunkelheit zerrissen. In manchen Städten waren Dreharbeiten bloß lästig, eine ärgerliche Störung im Alltagsleben.
Nicht so in Henley.
Es war Juni, weshalb sich eine beträchtliche Menschenmenge versammelte, das Ausladen der Lastwagen zu beobachten. Die Einwohnerzahl der Stadt nahm zu und wieder ab wie Ebbe und Flut. Im Winter stapften die Einheimischen in leeren Läden herum und mummelten sich gegen den Frost ein, der vom Meer hereinzog. Doch sobald der Sommer heranrückte, schwoll die Bevölkerung auf die vier- bis fünffache Größe an, und ein Touristenstrom füllte die Souvenirläden, Ferienhäuser und Pensionen, die an der Küste entlang aufgereiht lagen. Henley war wie ein Bär, der Winterschlaf hielt und dann jedes Jahr um die gleiche Zeit zum Leben erwachte.
Fast der ganze Ort erwartete sehnsüchtig den Memorial Day, denn Ende Mai wurde der Schalter umgelegt, und der übliche Dreimonatswahnsinn mit seinen Seglern und Anglern, Flitterwöchnern und Urlaubern brach über sie herein. Ellie O’Neill jedoch hatte ihn immer gefürchtet, und als sie jetzt versuchte, sich durch die Menschenmengen auf dem Grün zu drängen, fiel ihr auch wieder ein, wieso. Außerhalb der Saison gehörte das Städtchen ihr. Doch ab diesem glühend heißen Tag Anfang Juni gehörte es wieder den Fremden.
Und in diesem Sommer würde es noch schlimmer werden als sonst.
Denn diesen Sommer sollte hier ein Film gedreht werden.
Über ihr kreisten ein paar Möwen, auf einem Boot weit draußen fing eine Glocke an zu läuten. Ellie hastete an den gaffenden Touristen vorbei, weg von den Wohnwagen, die jetzt an der Hafenstraße aufgereiht standen wie eine Karawane. Ein scharfer Salzgeruch hing in der Luft, und aus dem ältesten Restaurant des Ortes, The Lobster Pot , wehte schon der Duft von gebratenem Fisch. Der Besitzer Joe Gabriele lehnte im Türrahmen, den Blick auf die hektischen Aktivitäten weiter unten auf der Straße gerichtet.
»Irgendwie durchgedreht, oder?«, sagte er. Ellie blieb stehen, folgte seinem Blick und sah eine lange schwarze Limousine vor das Zelt des Produzenten gleiten, gefolgt von einem Lieferwagen und zwei Motorrädern. »Und jetzt auch noch Fotografen«, murmelte er.
Unwillkürlich runzelte Ellie die Stirn, als das Öffnen der Limousinentür von einem Blitzlichtgewitter begleitet wurde.
Joe seufzte. »Ich kann nur sagen: Hoffentlich essen sie eine Menge Hummer.«
»Und Eis«, fügte Ellie hinzu.
»Richtig.« Er neigte den Kopf in Richtung des blauen T-Shirts, auf dessen Brusttasche ihr Name gestickt war. »Und Eis.«
Als Ellie endlich zu der kleinen gelben Eisdiele mit der grünen Markise kam, auf der in verblichenen Lettern Sprinkles stand, war sie schon zehn Minuten verspätet. Aber das war kein Grund zur Sorge; der einzige Mensch im Geschäft war Quinn – ihre allerbeste Freundin und zugleich die schlechteste Angestellte der Welt –, die sich über die Eistheke beugte und eine Zeitschrift durchblätterte.
»Ist das zu fassen, dass wir heute hier drin festsitzen?«, fragte sie, als Ellie zum Klingeln der Türglocke eintrat.
Drinnen war es herrlich kühl und roch nach Zuckerwatte, und wie immer fühlte Ellie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie war erst vier gewesen, als sie mit ihrer Mutter hierhergezogen war. Nach der langen Autofahrt aus Washington, DC – der Wagen ächzte unter der Last der Dinge, die sie mitgenommen hatten, die schweigenden Insassen bedrückten die Dinge, die sie zurücklassen mussten – hatten sie im Ort angehalten, um nach dem Weg zu dem Ferienhaus zu fragen, wo sie den Sommer verbringen würden. Mom hatte es eilig gehabt, wollte diese Reise hinter sich bringen, die schon lange vor der zehnstündigen Fahrt begonnen hatte. Aber Ellie war schnurstracks durch die Eingangstür marschiert und hatte ihre sommersprossige Nase gegen das gewölbte Glas der Vitrine gedrückt, und darum bestanden ihre ersten Erinnerungen an ihr neues Leben aus den schwarzweißen Fliesen, der kühlen Luft auf ihren Wangen und dem süßen Geschmack von Orangensorbet.
Jetzt bückte sie sich unterm Tresen hindurch und schnappte sich eine Schürze vom Haken. »Glaub mir«, sagte sie zu Quinn, »da
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