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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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am Rednerpult auf der Bühne befestigt. Nun wurde noch ein weiteres Kabel für ein sechstes gelegt. Die drei vorderen Reihen waren für das allgemeine Publikum gesperrt. Dort nahmen nun der Dekan und einige Fakultätsangehörige Platz. Als Marian erschien, reckte ich unwillkürlich den Kopf. Aber aus der Entfernung war ihr Gesichtsausdruck schwer zu deuten. Neil Carruthers ging neben ihr her, wie immer mit mürrischer Miene. Holcomb und Krueger trafen ein. Gary Helm ging auf sie zu, begrüßte sie und sprach ein paar Worte mit ihnen. Auch Barstow tauchte jetzt dort unten auf. Ruth Angerston gesellte sich zu ihm, und sie wechselten ein paar Worte. Mir fiel auf, dass Barstow mehrfach zu Marian und Holcomb hinübersah, diese ihn jedoch keines Blickes würdigten. Weitere Minuten vergingen. Bis auf die reservierten ersten drei Reihen, wo noch ein paar privilegierte Spätankömmlinge Platz nahmen, war der Hörsaal völlig überfüllt. Der Lärm war beträchtlich. Überall waren lebhafte Gespräche im Gang. Holcomb saß auf seinem Platz und schien sich zu sammeln oder seine Notizen zu überfliegen. Was würde er wohl sagen? Würde er über den Menschen De Vander sprechen, seinen Kollegen und Freund? Oder würde er sich nur als Direktor des Instituts äußern, dem er vorstand, als herausragender Vertreter einer Theorie, der als Methode ein von ihrem Begründer unabhängiges Existenzrecht zustehen sollte?
    Und was zog nur diese Massen an? Die Zahl derer, die hinreichend mit De Vanders Lehre vertraut waren, um das Verstörende der Enthüllung wirklich zu begreifen, war gewiss nicht sehr groß. Es lag natürlich am Kontext, dass der halbe Campus das Auditorium belagerte. Ein Yale-Professor, der einen geistigen Pakt mit Hitler geschlossen hatte, eine Verbindung mit dem absolut Bösen eingegangen war, das war natürlich eine Sensation.
    Jetzt würde es gleich losgehen. Holcomb saß reglos da. Neben ihm Krueger, dann Marian und ihr Mann, schließlich Dekan Delany. Holcomb beugte sich vor und sagte etwas zu Marian. Sie nickte. Die Bühnenbeleuchtung ging an. Sofort wurde es ruhiger im Saal. Die beiden sprachen noch immer miteinander. Dann erhob sich Marian, ging zwischen den Stuhlreihen hindurch und auf das Bühnentreppchen zu. Ein überraschtes Raunen ging durch den Saal. Als Marian hinter das Rednerpult trat, kehrte wieder Stille ein.

Kapitel 60
    »Ladies and gentlemen. Dear colleagues. Ich danke Jeffrey, dass er mir Gelegenheit gibt, als Erste zu sprechen.«
    Marian machte eine kurze Pause. Die Stille wirkte geisterhaft auf mich. Ich musste daran denken, wer noch vor zwei Monaten an diesem Pult gestanden hatte.
    »Wie Sie alle stehe ich vor einem Rätsel, vor einer unbegreiflichen Tatsache. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und mir besteht darin, dass ich das zweifelhafte Privileg habe, alle Fragen, die sich aus dieser Angelegenheit ergeben, bereits seit Wochen mit mir herumzutragen. Alle Fragen kann aber auch ich Ihnen sicher nicht beantworten. Ich will versuchen, Ihnen die Umstände zu schildern, die dazu geführt haben, dass diese problematischen Texte unter nicht minder problematischen Umständen an die Öffentlichkeit gekommen sind.«
    Sie griff nach einem Glas Wasser vor sich auf dem Pult und trank einen Schluck. Ich blickte mich um. Niemand rührte sich. Das Publikum wartete gespannt.
    »David Lavell«, begann sie erneut, »mein Doktorand und Assistent, fuhr im vergangen Sommer in meinem Auftrag für mehrere Wochen nach Europa, um nach Material für das De-Vander-Archiv zu suchen. Es war mir bekannt, dass Jacques schon während seiner Studentenzeit journalistisch tätig gewesen ist. Er hat es mir selbst mehrfach bestätigt, ohne jedoch auf Einzelheiten einzugehen. Der allgemeine Eindruck, den er nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen hinterlassen hat, war, dass er während seines Studiums in Brüssel an literarischen Zeitschriften mitgearbeitet und nach Ausbruch des Krieges eine nicht näher bezeichnete Rolle im belgischen Widerstand gespielt hatte.
    Als David aus Europa zurückkehrte, kam er mir verändert vor. Viele von Ihnen haben diese Veränderung an ihm selbst festgestellt. Er war mir gegenüber plötzlich sehr reserviert und verschlossen. Seine schon immer etwas spöttische und ironische Art hatte einer schwer erträglichen, verletzenden Überheblichkeit Platz gemacht, die sich zunehmend in üblen Invektiven gegen seine Mitstudenten und auch gegen mich niederschlug. Ich habe mehrmals versucht, ein

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