Der gestohlene Abend
kaum merklich den Kopf und schwieg.
Janine war aufgestanden. Sie wechselte einen Blick mit Marian und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang. Ich stand ebenfalls auf. Holcombs Stimme folgte mir, während ich mir langsam den Weg zum nächsten Ausgang bahnte.
»Womit haben wir es denn überhaupt zu tun? Was ist heute unsere Aufgabe? Es geht um einige literarische und kunstkritische Artikel, die ein sehr junger Mann vor fast einem halben Jahrhundert über einen Zeitraum von weniger als zwei Jahren geschrieben hat. Geschrieben für eine Zeitung in einem besetzten Land, unter einer fremden Herrschaft, und all das unter privaten und politischen Umständen, über die wir bisher noch sehr wenig wissen.«
Es gibt keinen Kontext, hörte ich Janines Stimme in meinem Kopf. Oder hatte Julie das gesagt? Ich hatte inzwischen fast den ersten Treppenabsatz erreicht. Die nächstgelegene Ausgangstür befand sich jedoch weiter oben. Ich kam nur sehr langsam voran und erntete nicht wenige missbilligende Blicke, während ich mich durch die Reihen schob.
»Schauen wir uns zum Beispiel jenen Text an, den die Journalisten-Professoren unserer Universität - völlig aus dem Kontext gerissen - zitiert haben, um De Vander als Antisemiten zu diskreditieren. Haben sie den Text wirklich gelesen? Den ganzen Text?«
Als ich die ersten Zeilen des Zitates hörte, blieb ich unwillkürlich stehen. Ich nutzte die Gelegenheit, um zu schauen, ob Janine noch dort unten war. Sie war gleichfalls stehen geblieben. Und Holcomb las ausgerechnet diese eine Stelle vor. Aber hatte er eine Wahl? Er musste sich dieser Passage stellen, bevor Barstow sie möglicherweise vorlesen würde.
»Der vulgäre Antisemitismus betrachtet die kulturellen Erscheinungen der Nachkriegszeit (nach dem Krieg 1914-18) gern als degeneriert und dekadent, da sie verjudet seien ...«
Die Sätze kamen mir jetzt noch widerlicher vor. Bevor Holcomb zum Ende kam, ging erneut ein empörtes Raunen durch den Saal. Während er den letzten Satz las, schwoll es weiter an.
»Man sieht außerdem, dass eine Lösung des Judenproblems durch die Schaffung einer jüdischen Kolonie außerhalb Europas keine bedauerlichen Folgen für das literarische Leben des Westens hätte. Es verlöre im Großen und Ganzen nur ein paar Persönlichkeiten von mäßigem Wert und würde sich, wie schon in der Vergangenheit, nach den höchsten Gesetzen der Evolution weiterentwickeln.«
Offenbar gab es nicht wenige Leute im Publikum, die bisher noch nicht in den Genuss des Originaltons gekommen waren. Und von allen Artikeln, die ich in Brüssel gelesen hatte, war dies der schlimmste, der unerträglichste. Es dauerte einen Moment, bis das Publikum sich wieder beruhigt hatte und Holcomb fortfahren konnte. Ich hatte endlich die Ausgangstür erreicht. Janine stand noch immer in der Menge neben der Bühne. Ich würde um das Gebäude herumgehen und sie am westlichen Bühnenausgang abpassen können.
»Das ist sehr ernst«, hörte ich Holcomb sagen. »Aber was sagt denn dieser Text? Er kritisiert vulgären Antisemitismus. Das ist seine primäre, erklärte und unterstrichene Absicht.«
Holcomb machte eine kurze Pause, aber niemand war offenbar fähig zu reagieren. Ich zögerte ebenfalls. Diese Argumentation wollte ich noch zu Ende hören.
»Bedeutet das Beschimpfen des vulgären Antisemitismus nicht vielleicht ein Beschimpfen oder Verhöhnen der Vulgarität von Antisemitismus schlechthin? Diese grammatische Modulierung öffnet den Weg zu zwei Lesarten.«
Es war jetzt wieder ganz still geworden.
»Vulgären Antisemitismus zu verdammen kann den Eindruck entstehen lassen, dass es einen feinen Antisemitismus geben könnte, in dessen Namen die vulgäre Sorte denunziert wird. De Vander sagt dies nicht, obwohl man sein Schweigen hier kritisieren könnte. Aber der Satz kann auch etwas ganz anderes bedeuten, und diese Lesart kann die andere immer auf verdeckte Weise unterminieren: Vulgären Antisemitismus zu verurteilen, insbesondere wenn man die andere Sorte gar nicht erwähnt, heißt, Antisemitismus selbst zu verurteilen, insofern er vulgär ist, immer und seinem Wesen nach vulgär. De Vander sagt auch dies nicht. Falls er so gedacht hat, eine Möglichkeit, die ich niemals ausschließen werde, so konnte er es in diesem Kontext natürlich nicht sagen. Sein Fehler lag also darin, dass er einen Kontext akzeptiert hat. Gewiss. Aber was heißt das, einen Kontext zu akzeptieren?«
Die Frage konnte nicht mehr beantwortet werden, denn
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