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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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erst jetzt bekannt geworden sind.
    »David hat niemandem von diesem Fund erzählt«, erklärte Candall-Carruthers in einem Telefoninterview. »Er kam sehr verändert aus Belgien zurück. Aber niemand wusste, was mit ihm los war.«
    Lavells Tat und sein tragischer Tod haben auf dem Campus große Trauer und Betroffenheit, aber auch Unverständnis und Befremden ausgelöst.
    Je öfter ich den Artikel las, desto deutlicher erschien mir die Absicht dahinter: Schadensbegrenzung. Jemand warf kontrolliert Ballast ab, um einer Bruchlandung zuvorzukommen. Wie sollte man Kruegers Äußerung sonst verstehen?
    »Wir sind fassungslos«, so Marvin Krueger, Vize-Direktor des Instituts, »sowohl über die Artikel, als auch über Davids Tat. Warum hat er niemandem etwas gesagt? Es war verantwortungslos von ihm, diesen Fund so lange zu verheimlichen. Das Schlimmste wäre, wenn jetzt der Eindruck entstünde, irgendetwas solle vertuscht werden. Was aufgeklärt werden kann, werden wir aufklären. Aber es bedarf einer sorgfältigen Sichtung des Materials.«
    Dies dürfte sich als heikle Aufgabe erweisen. Mindestens ein Artikel Jacques De Vanders mit dem Titel »Die Juden und die zeitgenössische Literatur« erscheint Forschern als klar antisemitisch. Der Artikel erschien am 4. März 1941 in einer Sonderbeilage von Le Soir, zu einer Zeit also, als die jüdische Bevölkerung Belgiens bereits unter schweren Repressalien durch die deutschen Besatzer litt.
    Wie viele Leute hatten Bescheid gewusst? Hatte David wirklich niemandem von seinem Fund erzählt? Ich dachte an seinen Shakespeare-Vortrag. Und wenn das der tiefere Sinn seiner Ansprache gewesen war, eine verdeckte, nur an Marian gerichtete Botschaft? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass David sie nicht informiert hatte. Hatte es zwischen ihnen Differenzen über das weitere Vorgehen gegeben? War er deshalb ausgerastet?
    Theo war nicht zu Hause, als ich nach der Landung in L. A. bei ihm anrief. Also probierte ich es bei Winfried.
    »Ja sag mal, wo treibst du dich denn herum?«, rief er überrascht. »Ich habe heute schon ein paar Mal bei dir angerufen.«
    »Ich bin gerade erst in L. A. gelandet.«
    »Kommst du mit dem Bus?«
    »Ja. In drei Stunden bin ich am Busbahnhof in Santa Ana.«
    »Ich hole dich ab. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier los ist. Besorg dir sofort eine New York Times.«
    »Ich habe sie schon in Chicago gekauft.«
    »Hier steht alles Kopf. Der Dekan ist außer sich. Marian ist offenbar ohne sich mit ihm abzustimmen an die Presse gegangen. Holcomb und Krueger wussten anscheinend auch nichts oder haben erst in letzter Minute davon erfahren. Das ganze Institut ist in Aufruhr. Es wird über nichts anderes geredet. Ich lese die Artikel gerade. Es ist nicht zu fassen.«
    »Die Artikel? Welche Artikel?«
    »Die von De Vander. Aus dem Soir. Im INAT liegen seit heute Morgen stapelweise Fotokopien aus. Jeder kann sie sich abholen. Das heißt, jeder, der Französisch kann. David hat das Material schon letzten Sommer in Brüssel ausgegraben und hergebracht. Aber angeblich hat er niemandem davon ein Sterbenswörtchen gesagt. Die ganze Geschichte ist noch nicht einmal in Ansätzen geklärt. Es gehen sogar Gerüchte um, dass die Polizei neu ermitteln will, ob Davids Unfall wirklich ein Unfall war. Hier ist die Hölle los. Wann genau kommst du an?«
    »Um halb sechs. Terminal zwei.«
    »OK. Ich werde da sein. Schöne Fahrt. Bis nachher.«Ich wählte die Nummer in Baton Rouge. Nach dem vierten Klingeln nahm jemand ab.
    »Hallo?«
    »Könnte ich bitte mit Janine sprechen?«
    »Sie ist nicht da. Wer ist da bitte?«
    »Wir kennen uns von der Uni. Ich wollte nur wissen, ob es ihr besser geht. Wir hatten einen Kurs zusammen.«
    »Wenn Sie mir Ihren Namen geben, sage ich ihr gern Bescheid, dann kann sie Sie vielleicht zurückrufen.«
    Ich zögerte.
    »Frederic Miller«, sagte ich. »Aber es ist nicht so wichtig. Ich sehe sie ja dann wahrscheinlich im Kurs. Danke.«
    Als ich aus dem eiskalten klimatisierten Bus stieg, sah ich Winfrieds Wagen schon auf dem Parkplatz stehen. Er bemerkte mich erst, als ich neben seinem Fenster stand, so vertieft war er in die Lektüre der Fotokopien auf seinem Schoß.
    »Da wünscht man doch, man hätte im Gymnasium besser Französisch gelernt«, sagte er, nachdem wir uns begrüßt hatten und ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Aber was ich verstehe, reicht ja schon. Ist es zu fassen!«
    Das Leuchten in seinen Augen sprach Bände. Winfried

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