Der gestohlene Abend
Telefonhörer und wählte die Nummer von Janines Appartement. Eine weibliche Stimme antwortete, aber es war nicht ihre. Sorry, nein, es habe einen Wechsel gegeben. Die Vormieterin studiere nicht mehr in Hillcrest. Ich wusste, dass das nicht stimmte. Aber Janine war offenbar umgezogen.
Kapitel 59
Wir waren vierzig Minuten zu früh da und hatten dennoch Mühe, überhaupt in den Hörsaal hineinzukommen. Die Saalordner waren überfordert. Übertragungswagen der örtlichen Fernsehsender waren diesmal zwar nicht zu sehen. Dafür zählte ich schon in den ersten Minuten sechs Journalisten, die, meist einen Fotografen im Schlepptau, jeden interviewten, der bereit war, eine Stellungnahme oder eine Meinung abzugeben. Ich sah John Barstow, der einem Reporter kurze Antworten gab, die dieser auf seinen Block notierte. Ein Stück von ihm entfernt schüttelte Professor Shawn energisch den Kopf und schritt kommentarlos an zwei Journalisten vorbei, die ihn fragten, ob er Fragen beantworten werde. »No comment«, sagte Shawn nur, lächelte und deutete auf den Eingang zum Hörsaal. Der Dekan, Mr. Delany, erschien, belagert von zwei weiteren Reportern, die ihn mit Fragen bestürmten. Auch Delany deutete nur auf den Hörsaal und antwortete nicht.
Ich entdeckte Julie und Parisa in der Warteschlange zum Mitteleingang. Julie nickte mir zu, worauf auch Parisa zu mir herüberschaute. Ich gab ihr erst gar keine Gelegenheit, mich mit einem ihrer herablassenden Blicke zu beehren, sondern suchte in der Menge nach weiteren bekannten Gesichtern. Mark Hanson stand etwas abseits und rauchte. Vom Parkplatz näherten sich Ruth Angerston und Doris, die in ein Gespräch vertieft langsam den Hügel heraufkamen. Als ich mich wieder Winfried zuwenden wollte, blickte ich in Theos grinsendes Gesicht.
»Prost Neujahr, Matthias«, sagte er. »Wo bist du denn so lange gewesen?«
Ich blieb bei der gleichen Version, die ich am Tag zuvor auch Winfried erzählt hatte, und schaute auf die Fotokopien, die er unter dem Arm trug.
»Und? Alles gelesen?«
»Das kann man wohl sagen. Sehr schönes Französisch.«
»Da zeigt sich der Vorteil neusprachlicher Gymnasien«, bemerkte Winfried, »und der Nachteil altsprachlicher, humanistischer Bildung.«
»Vor allem zeigt sich, dass weder gutes Französisch noch humanistische Bildung vor Barbarei schützen«, erwiderte Theo. »Hört euch das mal an.« Er blätterte in den Papieren, auf denen er viele Passagen mit gelber Leuchtfarbe hervorgehoben hatte. »Hier etwa. Originalton: ... niemand kann die grundlegende Bedeutung Deutschlands für das Lehen der gesamten westlichen Welt leugnen. In der Starrköpfigkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, muss man mehr sehen als nur eine nationale Standhaftigkeit. Das gesamte Fortbestehen der westlichen Zivilisation hängt von der Einheit des Volkes ab, das ihr Zentrum bildet. Hübsch, nicht wahr? Geschrieben am 16. März 1942, nur ein paar Wochen nach der Wannsee-Konferenz.«
Ich spürte, wie es um uns herum still wurde. Das Wort Wannsee-Konferenz, ausgesprochen von einem Deutschen mit deutschem Akzent, in einer Versammlung von Studenten und Professoren, von denen nicht wenige Juden waren, zudem in der angespannten Situation, entfaltete eine unheimliche Wirkung. Theo bemerkte es ebenfalls und steckte die Fotokopien rasch wieder unter den Arm.
»Na ja, zwischenzeitlich haben wir ja schon eine aktuelle Würdigung von Professor Barstow.«
Damit drückte er mir eine Zeitung in die Hand. Es war The Nation von heute Morgen. Theo hatte das Blatt so gefaltet, dass man den Artikel sofort sah. Die Überschrift lautete: Jacques De Vanders neue SS-thetik. Winfried beugte sich über meinen Arm und las neugierig mit. Im Vergleich zu Lehmans Artikel stand nichts wesentlich Neues darin. Aber der Ton war völlig anders: Er war griffig und giftig. Das Spiel mit den SS-Runen in der Überschrift machte klar, dass es eine Kampfansage war und keine Berichterstattung. Ich drehte mich um. Barstow sprach inzwischen mit zwei Journalisten gleichzeitig.
Mit Mühe bekamen wir noch ein paar Sitzplätze auf den Treppenstufen. Nervös ließ ich meinen Blick über die Hunderte von Köpfen vor mir gleiten, in der Hoffnung, doch irgendwo Janine zu entdecken. Soweit ich wusste, hatte sie ursprünglich gestern von Paris nach New Orleans zurückfliegen wollen. Theoretisch hätte sie bereits in Hillcrest sein können, falls sie sofort weitergeflogen war. Aber ich glaubte nicht so recht daran.
Fünf Mikrofone waren
Weitere Kostenlose Bücher