Der gestohlene Abend
triumphierte. Ich warf einen kurzen Blick auf die faksimilierten Seiten. Die Spalten waren im Original abfotografiert, verkleinert und auf DIN-A4-Seiten montiert worden. Der widerliche Kontext, in dem De Vanders Texte erst ihren wirklichen, trüben Glanz bekamen, war dadurch verschwunden. Ich blätterte den Packen durch. Es waren knapp hundert zum Teil beidseitig bedruckte Blätter. Manche erkannte ich auf Anhieb wieder.
Winfried fuhr los. »Wo bist du eigentlich gewesen?«, fragte er dann.
»In Deutschland. Bei meinen Eltern und in Berlin.« »Und? War's schön?«
»Ja. Es war OK. Und du? Wie hast du die Ferien verbracht?« »Ich war nur ein paar Tage Ski fahren in Lake Tahoe.« »Hast du Theo schon gesehen?«
»Ja. Aber er ist im Moment kaum ansprechbar. Er will das Zeug bis morgen komplett durchlesen. Morgen um zehn gibt es eine Pressekonferenz. Holcomb wird im Namen des INAT eine Erklärung abgeben.«
»Wo?«
»Im Brooker Auditorium. Ich würde früh hingehen. Es wird bestimmt ziemlich voll.«
»Wird Marian auch etwas sagen?«
Winfried beschleunigte und fädelte sich in den Abendverkehr zur Küste ein, was ein wenig schwierig war, weshalb er nicht gleich antwortete.
»Ich glaube eher nicht«, sagte er dann. »Sie ist in einer ziemlich beschissenen Lage.«
Der Tonfall seiner Stimme ließ auf unverblümte Schadenfreude schließen.
»Es klingt nicht gerade so, als ob dir das leid täte«, sagte ich.
»Nein. Ich hätte nicht geglaubt, dass es jemand schafft, diesen Leuten einen Schluck ihrer eigenen Medizin zu verabreichen. Und dass es ausgerechnet der Meister selbst aus dem Grab heraus tun würde, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Der Tod des Autors! Das Ende der Geschichte! Autobiografie ist Entstellung! Prosopopeia, die Stimme aus dem Jenseits. Jetzt fehlt nur noch, dass Holcomb die Nazipropaganda dieses Untoten in einen unbestimmbaren Text verwandelt.«
Winfried genoss seinen Spott. Ich war mit meinen Gedanken woanders. Morgen um zehn würde Holcomb sprechen. Und Janine? Würde sie auch da sein? Ich musste mit ihr reden. Sie hatte dieses Geheimnis um jeden Preis schützen wollen. Wegen Marian? Oder wegen De Vander? Konnte es wirklich einen plausiblen Grund geben, eine derartige Vergangenheit besser ruhen zu lassen? Das musste sie mir noch erklären. Wenigstens das.
Ich schaute auf das Meer, das nun in Sicht kam. Die Dächer der Villen von Corona del Mar glänzten feucht zwischen den Palmen. Es regnete nicht, aber Nebelstreifen zogen von der Küste herauf. Ich war überhaupt nicht vorbereitet auf die Gerüche und den Strom von Erinnerungen, den sie auslösten. Konnten wir uns nicht aussprechen? Warum sollte das fragwürdige Schicksal dieses Belgiers uns trennen? Was hatten diese schäbigen Artikel letztlich mit uns zu tun? Wie stand ich überhaupt zu der Sache?
Winfrieds Äußerungen gefielen mir nicht. Er machte es sich ein wenig zu einfach mit seinem Spott. De Vander war zweiundzwanzig gewesen, als er diese Artikel schrieb. Er war als junger Mensch einer mörderischen und barbarischen Ideologie aufgesessen. Aber eben nicht nur er. Der fanatische Glaube an Hitler hatte sich durch alle Kreise und Schichten gezogen. Und wenn die Untaten verjährten, warum nicht auch die Gedanken und Ideen? Möglicherweise hatte De Vanders Theorie von der Unlesbarkeit der Welt einen viel tieferen, tragischeren Sinn gehabt, als ihm selbst bewusst gewesen war. Hatte er am Ende gar keine Theorie verfasst, sondern eine bizarre Form der Abbitte, der Beichte? Vielleicht hatte er die Sprache zum Verstummen bringen und sie zu einem System von widersprüchlichen Zeichen herabwürdigen wollen, um sein persönliches Trauma zu tilgen. Vielleicht hatte er die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen bringen wollen, die ihn täglich an die furchtbaren Sätze erinnerte, die er einmal geschrieben hatte.
Der Anblick des Campus verstärkte meine melancholische Stimmung noch. Wir fuhren sogar an Janines Appartement vorbei. Hinter den Fenstern brannte Licht. War sie schon hier? War sie nach unserer Trennung in Brüssel umgehend nach Paris zurückgekehrt und früher geflogen? Ich lehnte Winfrieds Vorschlag, noch ein Bier zu trinken und eine Pizza zu essen, dankend ab und musste mich auch nicht sehr verstellen, um von der langen Reise erschöpft zu wirken. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen, um gemeinsam zu Holcombs Vortrag zu gehen. In meinem Studio angekommen, griff ich sofort nach dem
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