Der gestohlene Abend
Gespräch mit ihm zu führen, was jedoch nicht gelang. Ebenso wenig erfuhr ich Genaueres über die Ergebnisse seiner Recherchen in Brüssel. Er sagte nur, er habe wochenlang alte Zeitungen durchwühlt und es sei ihm noch immer schlecht davon. Er rate jedem davon ab, die Kriegsjahrgänge europäischer Tageszeitungen durchzulesen.«
Jetzt ging zum ersten Mal ein Raunen durch den Saal. Barstow nickte kaum merklich mit dem Kopf.
Holcomb drehte sich kurz zum Publikum um. Krueger war auf seinem Stuhl zusammengesunken. In mir kämpften widerstreitende Gefühle miteinander. Marian beeindruckte mich. Aber sagte sie die Wahrheit? David mochte geschockt und verwirrt gewesen sein. Aber warum hätte er alles an ihr auslassen sollen? Hatte er ihr wirklich nichts gesagt, sie nur geschnitten und sich von ihr distanziert, ohne sie über De Vanders Vergangenheit aufzuklären?
»Diese Bemerkung machte mich natürlich hellhörig. Es ist selten, einem Lehrer wie Jacques De Vander zu begegnen. Und man hat auch nicht oft einen Studenten wie David. Umso schwerer fiel es mir, seine plötzlich Feindschaft mit gegenüber zu akzeptieren. Der vorläufige Höhepunkt dieser traurigen Entwicklung ereignete sich hier, in diesem Auditorium. Viele von Ihnen haben Davids Talent Lecture selbst gehört. Es war ein exzellenter Vortrag. Wie immer, wenn David etwas tat, tat er es auf außergewöhnliche Weise. Dennoch benutzte er diesmal sein Talent nicht nur, um seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, sondern um mich persönlich öffentlich anzugreifen. Ich zitierte ihn zu mir und stellte ihn zur Rede. Als er mir jede Erklärung verweigerte, setzte ich ihn davon in Kenntnis, dass unter diesen Umständen eine weitere Zusammenarbeit nicht möglich sei. Seine offen zur Schau getragene Feindschaft mir gegenüber sei weder mit seiner Arbeit im De-Vander-Archiv noch mit seinem Promotionsvorhaben zu vereinbaren. Ich legte ihm nahe, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Ich würde ihm keine Hindernisse in den Weg legen und seine Kündigung sofort annehmen. Einen neuen Doktorvater und einen zu seiner offenbar neuen geistigen Orientierung passenden Promotionsausschuss zu finden, dürfte für einen Studenten seines Kalibers kein Problem sein.«
Sie tat mir jetzt fast leid. War es wirklich so gewesen? Eines ihrer Streitgespräche hatte ich ja zufällig belauscht. Marian war noch immer zutiefst verletzt. Es ging ihr im Augenblick gar nicht um De Vander. Das eigentliche Rätsel für sie war David.
»Kurz darauf erfuhr ich zufällig durch einen Studenten, dass David damit beschäftigt war, Zeitungsartikel aus flämischen Zeitungen der Vierziger jähre zu übersetzen. Auf meine verwunderte Nachfrage, um was für Artikel es sich handelte, erhielt ich zur Antwort, es seien antisemitische Schmierereien aus der belgischen Kollaborationspresse, die angeblich ich selbst, in Vorbereitung einer Konferenz über Sprache in der Diktatur, sammeln und herausgeben würde.«
Ich wurde rot und kauerte mich zusammen. Wie peinlich und unangenehm das alles war! Gehörte das überhaupt vor ein Publikum?
»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, was diese Nachricht in mir auslöste. Ich machte mich sofort auf die Suche nach David, konnte ihn jedoch nirgends finden. In derselben Nacht fiel er seiner eigenen Brandstiftung im De-Vander-Archiv zum Opfer.«
Marian trank erneut einen Schluck Wasser. Das Publikum, das gebannt gelauscht hatte, fiel aus seiner stummen Anspannung heraus. Man hörte hier und da ein Räuspern und leises Getuschel.
»Die weiteren Ereignisse sind Ihnen bekannt. Nach den Erkenntnissen der Polizei wollte David mit seinem Feuer ein Signal setzen, um zwei Tage später den Fall, wie er sich ihm darstellte, in der Presse zu veröffentlichen. Er hatte hierfür bereits Kontakte zu Roger Lehman von der New York Times geknüpft. David hatte außerdem Vorkehrungen für seine Abreise getroffen. Das für die Presse gesammelte Material fand sich vollständig in seinem Reisegepäck. Nach Freigabe durch die Polizei wurde es Dekan Delany und schließlich mir zur Auswertung übergeben. Davids merkwürdiges Verhalten der letzten Monate wurde endlich, wenn auch auf erschütternde Weise, nachvollziehbar. Er hatte etwa achtzig Artikel in französischer und flämischer Sprache zusammengestellt und ins Englische übersetzt. In den Unterlagen fanden sich außerdem Protokolle von Gesprächen, die David in Brüssel mit Personen geführt haben muss, die Jacques De Vander gekannt
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