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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sind sie alle nicht.«
    »Warum müssen denn immer alle sympathisch sein?«
    »Nicht alle. Aber wenigstens der Held oder die Heldin. Wo ist außerdem die Liebesgeschichte?«
    »Auch das noch«, stöhnte Winfried und schüttete geräuschvoll die Pasta ins kochende Wasser.

Kapitel 63
    Zum ersten Mal sah ich Barstow mit Krawatte. Er war aufgestanden, um die Tür hinter mir zu schließen, während ich vor seinem Schreibtisch Platz nahm. Seine Postablage quoll über. Ich bemerkte, dass er einen Knopf an seinem Tischtelefon betätigte. Fast im selben Augenblick begann ein rotes Lämpchen zu blinken.
    »Es ist ziemlich hektisch im Augenblick, aber ich bin froh, dass Sie vorbeischauen. Hatten Sie schöne Weihnachtsferien?«
    »Ja. Danke.«
    Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Unser Gespräch über David vor ein paar Wochen hat eine ganz andere Dimension bekommen, nicht wahr?«
    »Ich hatte keine Ahnung, Professor Barstow. Wirklich nicht.«
    Er hob abwehrend die Hand. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Matthew. Ich wollte auch etwas ganz anderes mit Ihnen besprechen. Ihre Zukunft.«
    »Meine Zukunft?«
    »Ja. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, bei uns weiterzumachen?«
    »Ehrlich gesagt, nein. Jedenfalls nicht ernsthaft.«
    Barstow öffnete eine Schublade und zog eine Broschüre heraus. »Hier. Das habe ich für Sie besorgt. Lesen Sie es einfach mal durch. Die finanzielle Ausstattung für Teaching Assis-tants ist nicht üppig, aber als Teaching Assistant erlässt man Ihnen die Studiengebühren. Verfügen Sie über eigene Mittel? Oder würden Ihre Eltern Sie vielleicht unterstützen?«
    »Es ehrt mich, dass Sie mir das vorschlagen, Professor Barstow.«
    »Ich tue das nicht ganz uneigennützig, Matthew. Der Anstoß kam übrigens von Ruth. Sie meinte kürzlich zu mir, wir sollten Ihnen ein Angebot machen. In der Germanistik könnten wir Sie für Sprachkurse ganz gut brauchen. Dass Sie das Zeug dazu haben, hier zu promovieren, weiß ich aus eigener Erfahrung. Warum also nicht? Die Fristen sind knapp. Den Antrag und vor allem die Anmeldung für die Tests müssten Sie noch vor Ende des Monats stellen. Die ganzen anderen Sachen, also die Gutachten, Empfehlungsschreiben und so weiter können Sie dann nachreichen. Überlegen Sie es sich. Oder möchten Sie lieber in Deutschland weiterstudieren?«
    Ich runzelte die Stirn.
    »Habe ich Ihnen schon von meiner Gastprofessur in Deutschland erzählt?«, fragte er.
    »Ich wusste gar nicht, dass Sie in Deutschland unterrichtet haben.«
    »Habe ich auch nicht. Aber ich habe es versucht. Doch wie soll man zweihundert Studenten auf einmal unterrichten? Wie gesagt. Ich denke, Sie hätten Chancen bei uns. Falls Sie sich bewerben wollen, werde ich Sie unterstützen.«
    »Das ist sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.«
    »Sehr begeistert klingt das nicht.«
    »Nein.«
    »Hängt das mit den Ereignissen der letzten Wochen zusammen?«
    Die Frage war mir immer wieder im Kopf herumgegangen. Ich musste sie einfach stellen.
    »Ja. Auch. Aber im Grunde wollte ich Sie schon lange etwas ganz anderes fragen, Professor Barstow.«
    »Bitte. Fragen Sie.«
    »Warum haben Sie mich damals in Marians Seminar vermittelt?«
    »Ich wollte Ihnen einen Gefallen tun. Aber da Sie so fragen, vermuten Sie offenbar etwas anderes.«
    »Darf ich ehrlich sein?«
    »Natürlich.«
    »Ich hatte damals das Gefühl, dass Marian mich nur aufgenommen hat, weil sie vor Ihnen Angst hatte. Vielleicht irre ich mich. Aber ich werde den Gedanken einfach nicht los.«
    Er legte den Kopf schief.
    »Sprechen Sie weiter, Matthew. Worauf wollen Sie hinaus?«
    »Sie haben nie verhehlt, dass Sie von Marians Arbeit nicht viel halten.«
    »Das ist nicht ganz richtig. Ich stehe ihrer Arbeit zwar kritisch, aber respektvoll gegenüber. Wovon ich in der Tat wenig halte, ist die Heldenverehrung, die ihr und De Vander durch unsere Studenten zuteil wird.«
    »Haben Sie mich deshalb zu ihr geschickt? Um sie zu testen? Sie hätte mich doch ablehnen müssen. Warum hat sie das nicht getan?«
    Barstow erhob sich, ging ein paar Schritte, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen ein Bücherregal.
    »Ein Professor ist für mich in erster Linie ein Lehrer, Matthew. Und was ist ein Lehrer? Was ist seine Aufgabe? Ich denke, er sollte versuchen, die Anlagen seiner Schüler zu fördern. Dazu gehört auch, dass er ihnen die Freiheit lässt, Wege zu beschreiten, die er selbst vielleicht für Holzwege hält. Sie

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