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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Danke.«
    Ich wollte überhaupt niemanden sehen und verbrachte auch diesen Tag noch zu Hause, abgesehen von einem kurzen Trip zu Safeway, wo ich mich mit Orangen, Fertigsuppen, Tee und Grippetabletten eindeckte. Ansonsten lag ich stundenlang im Bett und versuchte zu schlafen. Zu vergessen.
    Du widerst mich an!
    Ich inhalierte Kamillendampf, um den Husten zu beruhigen, und döste vor mich hin. Wenn mein Kopf vorübergehend etwas klarer wurde, blätterte ich in den Sonetten. Soll einem Sommertag ich dich vergleichen? Und immer wieder das einundsiebzigste: Nay, ifyou read this line, remember not the hand that writ it.
    Am Freitagmorgen raffte ich mich auf und ging ins Institut, um meine Post zu holen. Ich traf ausgerechnet auf Mark. Sonst war niemand zu sehen. Die Tür zu Marians Büro war geschlossen. Am Empfang hing sogar ein Hinweis: Für institutsfremde Personen kein Zugang. Anfragen bitte an den Dekan.
    Neu war ein Poster an der Wand neben dem Empfang. Ich musterte es verwundert aus der Ferne, während Mark auf mich einsprach.
    »Für mich hat sich gar nichts geändert«, sagte er. »Und das kann jeder hören. Ich finde es einfach zum Kotzen, wie plötzlich alle herumdrucksen oder auf Distanz gehen. Ist die Methode vielleicht plötzlich weniger genial?«
    »Wo sind denn die anderen alle?«, fragte ich.
    »Parisa ist weg. Ich weiß nicht, wohin.«
    »Wie: weg?«
    »Sie will mit Marian gehen.«
    »Marian geht weg?«
    Er schaute mich an.
    »Was glaubst du denn? Meinst du vielleicht, sie wird sich dieser Hexenjagd aussetzen? Man könnte ja meinen, sie hätte die Soir- Artikel selbst geschrieben.«
    Das Poster war seltsam. Ich ging näher hin. De Vander Memorial Conference, stand in großen Lettern unter dem Foto. 20.-22. Februar 1988. Hillcrest University. Ich hörte, dass Mark sich entfernte, während ich fassungslos das Foto anschaute. Aber die Bildunterschrift bestätigte es klar und deutlich. Es war ein Foto von Jacques De Vander. Als Sechsjähriger! Das Bild eines unschuldig in die Kamera blickenden Kindes.
    »Sie werden ihn weiß waschen, was denn sonst«, sagte Winfried am Abend dazu. Ich war als Erster gekommen und half ihm beim Salatputzen. »Es lohnt sich gar nicht, hinzugehen. Es wird nichts dabei herauskommen.«
    Auf dem Esstisch lag ein Entwurf des Konferenzprogramms.
    Daneben eine aktuelle Ausgabe von Newsweek mit einem Artikel über den Fall. Neben dem Aufmacher war die gleiche Porträtaufnahme De Vanders abgedruckt wie in der New York Times und weiter unten ein Archivbild marschierender Wehrmachtssoldaten.
    »Es gibt keine schlechte Presse«, sagte Winfried. »Schlecht ist nur keine Presse. Welcher verschrobene Literaturwissenschaftler hat es schon je in die Newsweek geschafft.«
    Ich legte das Heft wieder hin.
    »Ich habe gehört, dass Marian weggeht. Weißt du davon?«
    »Gerüchte. Ich glaube es aber nicht. Im Gegenteil. Ich wette, dass sie jetzt erst recht berufen wird. Was soll überhaupt die ganze Aufregung? Es ist doch wie in einer Geisterbahn. Nur altbekannte Ungeheuer. Für Hillcrest kommt der Fall im Grunde wie gerufen. Hochdramatisch. Alle großen Fragen und Gräuel des zwanzigsten Jahrhunderts hängen mit drin. Ein Student ist sogar unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Hey, wo gibt es das heute noch? Man hat ja plötzlich den Eindruck, als ob es in den Geisteswissenschaften noch um irgendetwas gehen würde. Um Leben und Tod womöglich. Huhu. Marian kann das wunderbar verwalten. Bis die wahrhaftige Nullität dieser ganzen Lehre sichtbar geworden ist, kann eine ganze Generation darüber promovieren. Irgendwas muss man ja machen.«
    »Warum ziehst du das alles so ins Lächerliche?«, entgegnete ich gereizt. »David war keine Attrappe. Und der Begriff Geisterbahn beim Thema Holocaust ist geschmacklos.«
    »Hey, so habe ich das doch nicht gemeint«, sagte er ausweichend. »Und dieser David tut mir wirklich leid. Sein Shakespeare-Vortrag wird mir immer als einer der glänzendsten Momente meiner Hillcrest-Zeit in Erinnerung bleiben. Aber dieses sinnlose Feuer. Das ist ja das Fatale bei Leuten, die ihr Heil erst in abstrakten Theorien und dann in blindem Aktionismus suchen. Sie wollen immer Dinge trennen, die nicht trennbar sind.«
    »Und das wäre?«
    »Theorie und Praxis. Sprache und Rede. Man kann das nicht trennen. Vielleicht in einem fensterlosen Seminarraum von Hillcrest, aber nicht im Leben, nicht in der Welt. Literatur ist Praxis. Wer schreibt, handelt. Erzählen heißt: Mensch

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