Der gestohlene Abend
sein, Sinn stiften. Und manchmal eben auch: Schuld auf sich laden. Gedanken sind Taten. Und das gilt auch für De Vanders Artikel. In einer Zeit, als Europa die Juden vor die Wölfe warf, hat er mit den Wölfen geheult. Da kann er hundertmal den Tod des Autors ausrufen, um sein Gewissen zu beruhigen.«
Es klingelte. Ich ging zur Tür und öffnete. Theo und Gerda standen draußen. Gerda musste gerade derart lachen, dass sie kein Wort herausbekam.
»Wie geht denn der Witz?«, wollte Winfried wissen, nachdem sie hereingekommen waren.
Theo warf seinen Mantel auf die Couch und nahm Gerda, die noch immer kicherte, eine Zeitschrift aus der Hand.
»Village Voice von dieser Woche«, sagte er und begann zu lesen. »Der Redaktion liegen einige erboste Stellungnahmen bedeutender Professoren zur Berichterstattung zum De-Vander-Skandal vor. Nach eingehender Prüfung der Zuschriften können wir daraus nur folgende Schlussfolgerungen ziehen: 1) Der Zweite Weltkrieg hat nicht stattgefunden. 2) Der Zweite Weltkrieg hat stattgefunden, allerdings nur im linken Ohr von Jacques De Vander.«
Theo unterbrach, da wir jetzt alle lachen mussten. Ein paar Augenblicke später las er amüsiert weiter.
»3) Der Zweite Weltkrieg hat nur in den Zeitungen stattgefunden. 4) Jacques De Vanders linkes Ohr bestand aus Zeitungspapier. 5) Die neue ästhetische Theorie ist ein bedauerliches Nebenprodukt des französischen Konjunktivs.«
Gerda ließ sich prustend auf die Couch fallen. Theo schaute triumphierend um sich, als stammten die Sottisen von ihm. Winfried griff nach dem Heft. Ich öffnete eine Dose Bier und brachte sie Gerda, die sich die Tränen aus den Augen wischte.
»Ich wüsste zu gern, worauf die sich beziehen?«, sagte Theo mit trauriger Miene.
»Ich habe Theo empfohlen, einen Roman über De Vander zu schreiben«, sagte Gerda, die sich endlich wieder beruhigt hatte. »Arbeitstitel: Dr. Kriminale, oder Wie ich wurde, was ich nicht bin. Aber er will nicht.«
»Viel zu abgehoben«, erwiderte Theo. »So etwas kann nur einer Germanistin einfallen. Meinst du im Ernst, irgendjemand will einen Roman über eine Literaturtheorie lesen, die selbst Leute mit einem Doktortitel nur mit Mühe kapieren?«
»Ich meine doch gar nicht die Theorie. Ich meine De Vander. So eine Mischung aus Gatsby und Felix Krull.«
Theo schüttelte den Kopf. »Genau das ist das Problem. Gatsby und Krull sind sympathisch. De Vander ist ein Ekel.«
»De Vander hat aber etwas, was Gatsby und Krull nicht haben«, widersprach Winfried.
»Ach ja?«, sagte Theo, zog Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an, ein klares Anzeichen dafür, dass das Gespräch ihn zu reizen begann. »Und das wäre?«
»Gatsby und Krull sind nur Figuren. De Vander jedoch ist ein Typ. Ein Zeichen der Zeit, dieser obszönen Postmoderne mit ihrem anything goes, und alles ist sein eigenes Gegenteil. Heute musste ich mir von einer Studentin erklären lassen, dass Atomraketen strukturell das Gleiche seien wie der männliche Phallus. Wir sind wieder beim magischen Analogiedenken von Paracelsus gelandet. Demnächst wird man wieder Walnüsse gegen Kopfschmerzen essen, weil eine Walnuss wie ein Gehirn aussieht.«
»Damit musst du dich herumschlagen«, erwiderte Theo. »Schließlich bist du der Wissenschaftler. Germanisten denken eben so.«
»Über Schwänze und Atomraketen?«, protestierte Gerda. »So ein Quatsch!«
»Nein«, gab Theo zurück. »Über Figuren und Typen. Ihr sucht doch immer nur nach Abstraktionen, nach dem bürgerlichen Roman oder so einem Scheiß. Literatur lebt aber nun mal von Figuren.«
»Also wenn De Vander keine Hochstaplerfigur ist, wer denn dann?«, entgegnete Gerda. »Gibst du mir übrigens mal eine?«
Theo warf ihr die Zigaretten hin.
»Ich bleibe dabei«, sagte er. »De Vander hat keine Geschichte. Deshalb hat er ja eine Theorie.«
»Wieso?«, fragte Gerda.
»Er hat einfach nur gelogen. Die meisten Geschichten sind zwar erlogen, aber nicht jede Lüge ist eine gute Geschichte. Für einen Roman interessant wäre vielleicht jemand wie Holcomb oder Marian oder David. Sie geraten in Konflikte, durch die sie gezwungen sind, sich zu erkennen zu geben. Das ist Drama: Handlung! Tu in einer bestimmten Situation dies oder jenes und peng: ich weiß, wer du bist. Was macht David? Er zündet ein Archiv an. Was macht Holcomb? Er beweist, dass ein skrupelloser, gewiefter Rechtsanwalt in ihm steckt, der alles so hindreht, wie es ihm gerade passt. Aber besonders sympathisch
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