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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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als Pinewood Hall. Janine aß Joghurt und erzählte, dass ihre Vorfahren väterlicherseits aus Umbrien stammten.
    »Mein Vater ist sogar mal hingefahren. Es ist ein kleines, verlassenes Dorf in der Nähe von Todi. Aber das Einzige, was noch vorhanden ist, sind ein paar Grabsteine.«
    »Und deine Mutter? Ist sie auch Italienerin?«
    »Nein. Sie kommt aus Kuba. Und du? Dein Familie? Woher kommst du?«
    »Süddeutschland«, sagte ich. »Aber der Name der Stadt wird dir nichts sagen. Ist nur eine kleine Kreisstadt, die touristisch nicht viel zu bieten hat.«
    »Und was machen deine Eltern?«
    »Mein Vater ist Ingenieur. Er baut Kläranlagen. Das heißt: Das tat er früher. Er arbeitet nicht mehr. Mein Bruder studiert Kunst in Düsseldorf.«
    »Malerei?«
    »Nein. Er macht Installationen. Videos. Konzeptkunst. Ich verstehe nichts davon.«
    Sie zog ihre Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. Dann lehnte sie sich nach hinten, schlug die Beine übereinander und ließ den nächsten Löffel Joghurt genüsslich in ihrem Mund verschwinden. Sie wusste natürlich, wie sexy sie war. Sie versteckte es nicht, aber sie ging auch nicht damit hausieren. Sie spielte auf eine fast gleichgültige Art damit, was es mir noch schwerer machte, so zu tun, als säßen wir ganz unverfänglich hier beim Frühstück, auf der Terrasse des Geologiegebäudes, wo sich mit Sicherheit keine Studenten aus den Geisteswissenschaften hinverirren würden. Vorsichtshalber setzte ich ebenfalls meine Sonnenbrille auf und versuchte nicht zu vergessen, dass sie in ein paar Stunden ihren Freund David mit einem Kuss begrüßen und vermutlich mit ihm Lunch essen würde.
    »Ich mag moderne Kunst«, sagte sie. »Hier in der Nähe gibt es ein Museum von so einem Typen, der in den Sechzigerjahren nur verrücktes Zeug gemacht hat. Er ließ auf sich schießen und so. Das Museum wird angeblich irgendwann einstürzen. Am Eingang ist eine riesige Schraubwinde angebracht, die sich jedes Mal ein Stück weiterdreht, wenn ein Besucher hindurchgeht. Irgendwann ist es so weit und der Druck lässt alles zusammenstürzen.«
    »Und was soll das?«
    Sie kicherte.
    »Genau das würde David auch fragen.«
    »Und was würdest du ihm antworten?«
    »Dass es eine sinnlose Frage ist. Was soll eine Etüde von Chopin?«
    »Ich wusste nicht, dass Chopin Etüden geschrieben hat, die nach soundso vielen Aufführungen Konzertflügel explodieren lassen.«
    Sie lachte. »Meinetwegen. Aber moderner Kunst kann man nun mal nicht die Sinnfrage stellen.«
    »Ach ja?«
    Sie zog die Sonnenbrille wieder ab und schaute mich an, als ob ich sie auf den Arm nehmen wollte.
    »Ach komm, Matthew, Kunst ist nicht Religion. Es gibt Dinge, die einfach Spaß machen. Die einfach schön oder originell sind.«
    Es war das erste Mal, dass sie meinen Namen aussprach.
    »Was soll daran schön sein, wenn Wände einstürzen?«
    »Die Idee. Die Lebensgefahr, die plötzlich damit verbunden ist, ein Kunstwerk zu besichtigen. Was weiß ich? Ich habe es mir nicht ausgedacht. Aber ich finde es originell.«
    »David aber nicht.«
    »Nein. Er würde dir sicher recht geben.«
    Sie verschränkte plötzlich die Arme vor der Brust, was mir auffiel, ohne dass mir klar wurde, welches Signal sie mir damit geben wollte. Ich trank einen Schluck Kaffee, der widerlich schmeckte, lauwarm war und überhaupt diesen Namen nicht verdiente.
    »Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragte ich. Kaum war der Satz gesagt, da spürte ich auch schon, wie dumm er gewesen war. Sofort änderte sich die Stimmung. Janine musterte mich schweigend. Ich war ein Esel. Ich hatte mir wie ein Anfänger in die Karten schauen lassen. Der unangenehme Augenblick dauerte ein paar Sekunden. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie die Tür zuschlagen sollte. Zu meiner Erleichterung entschied sie sich dagegen.
    »Hillcrest hat oben in den Bergen ein paar Chalets, die manchmal für Konferenzen und Wochenendseminare benutzt werden«, sagte sie. »Die Chalets stehen an einem See. Sehr romantisch. Wir waren zufällig zur gleichen Zeit da oben.«
    Ich merkte, dass ihr Blick zu meiner linken Hand gewandert war.
    »Und du? Deine Freundin? Wo ist sie? In Berlin?«
    »Ich trage den Ring nur so«, sagte ich. »Er hat nichts zu bedeuten. Jedenfalls habe ich keine Freundin. Weder in Berlin noch sonst wo.«
    Ihre Augenbrauen formten jetzt zwei Bögen milder Skepsis.
    »Meinst du, ich könnte mal mit David reden?«, fragte ich. »Gaststudenten wie ich dürfen nicht am INAT studieren.

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