Der gestohlene Abend
Aber ich würde zu gern erfahren, was die dort eigentlich machen.«
Ihre Brauen senkten sich wieder. »Im Moment ist er ziemlich mit diesem Vortrag beschäftigt, den er am Trimesterende halten muss. Aber danach hat er sicher Zeit. Warum nicht?«
»Weißt du, wovon sein Vortrag handelt?«
»Irgendwas aus den Shakespeare-Sonetten, aber Genaueres weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass er Tag und Nacht daran arbeitet und ich bis dahin nicht viel von ihm zu sehen bekomme.«
Weshalb ich mich freitags allein auf Partys herumtreibe, beendete ich im Kopf ihren Satz.
»Also wenn du nächstes Wochenende Begleitung für eine Party brauchst, ich bin noch frei.«
Der Satz war mir einfach so über die Lippen gekommen.
»Ist das ein Vorschlag für ein date?«, fragte sie nun wieder merklich kühler.
»Janine, ich kenne hier nicht viele Leute. Wenn ich nicht aufpasse, dann verbringe ich meine Wochenenden mit Leuten wie Frederic Miller, wozu ich absolut keine Lust habe.«
Die Antwort schien sie nicht zu überzeugen.
»Ich bin Europäer, Janine«, versuchte ich mich herauszureden. »Bei uns gibt es keine dates. Bei uns gehen Menschen, die sich sympathisch finden, einfach so zusammen etwas trinken. Ich könnte dich nicht einmal anständig zum Abendessen einladen, mein Stipendium ist ziemlich mickrig.«
»Du kannst mich ja nicht einmal abholen«, erwiderte sie ernst. »Ohne Auto.«
»Stimmt. Siehst du. Ich bin völlig ungefährlich.«
»Ja. Ein Mann ohne Auto. Daraus kann nichts werden.«
Sie lächelte endlich wieder ein wenig.
Kapitel 16
Die nächsten Tage kam sie nicht zum Schwimmen. Und sie erschien auch nicht im Filmkurs. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein dummes Gerede sie vertrieben hatte und sie mich mied, um unerwünschten Avancen aus dem Weg zu gehen. Aber vielleicht hatte ihre mehrtägige Abwesenheit doch mit unserem Frühstücksgespräch zu tun? So ganz wurde ich den Verdacht nicht los. Bei jedem Schritt auf dem Campus hielt ich nach ihr Ausschau. In der Bibliothek, in der Cafeteria, im Pool natürlich auch. Dort war es besonders schlimm, denn unsere letzte gemeinsame Schwimmstunde hatte begonnen, mich im Schlaf heimzusuchen; ein doppelt unangenehmer Zustand, da die wilden Fantasien mich ausgerechnet an dem Ort verfolgten, wo ich sie üblicherweise bekämpfte.
Ich versuchte, nicht mehr an sie zu denken, und igelte mich ein. Am Freitagnachmittag unternahm ich meinen regelmäßigen Ausflug zu Safeway und füllte mein Tiefkühlfach mit Fertiggerichten. Danach arbeitete ich das Pensum für meine Kurse ab. Ich las und schrieb bis weit nach Mitternacht, schwamm am Samstagmorgen allein und ungestört meine fünfzig Bahnen und brachte den Tag herum, indem ich immer wieder die Sonette las und einzelne Passagen übersetzte. Ich brauchte unbedingt Ablenkung.
Gab es auf diesem verdammten Campus überhaupt keine Partys? Im Filmclub lief ein französischer Film namens Betty Blue. Ich las die Inhaltsangabe: Schriftsteller mit Schreibblockade wird durch die Begegnung mit einer leidenschaftlichen Frau von seiner Schreibhemmung befreit. Skandalfilm aus Frankreich nach dem gleichnamigen Bestseller. Die Fotos waren ziemlich eindeutig und passten gar nicht zu meiner Stimmung.
Auf einer Infotafel neben dem Hauptverwaltungsgebäude entdeckte ich, dass die Writer's Group jeden Samstag im Kaminzimmer der Fakultät für Geowissenschaften einen literarischen Abend veranstaltete, zu dem jeder willkommen war. Ich ging hin. Theo war auch dort. Er stellte mich einigen seiner Kolleginnen und Kollegen vor. Die Gruppe war überschaubar, zehn oder zwölf Personen. Ich erfuhr, dass für Prosa und Lyrik jedes Jahr nur jeweils acht Studenten zugelassen wurden. Theo war nicht der einzige internationale Student, wie das hier hieß. Ein Student war Mexikaner, eine Studentin mit einem ziemlich starken Akzent kam aus Israel. Theo schien Gedanken lesen zu können. Nachdem ich mit ihr ein wenig Small Talk gemacht hatte, flüsterte er mir auf Deutsch zu: »Hegel hat geschwäbelt. Hölderlin und Schiller übrigens auch.«
Während des ersten Teils des Abends wurden Gedichte von der Sorte vorgelesen, wie John Barstow in seinem Kurs eines an die Tafel geschrieben hatte. Ich war froh, als Außenstehender nichts dazu sagen zu müssen. Einzelne Passagen gefielen mir. Eine blasse, schmale Studentin trug einen romantischelegischen Zyklus vor, den sie City-Poems nannte. Auf fremden Blicken durch die Straßen schwimmend, berühren wir das Unberührte,
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