Der gestohlene Abend
deiner Meinung nach, wenn nicht einen Ausdruckswunsch?«
Er schaute mich lange an.
»Dich!«
»Mich?«
»Ja. Für mich ist Kunst ein Spiegel, nichts weiter. Bücher, Erzählungen, Romane. Was ist das anderes als eine Projektionsfläche für unsere Wünsche, Sehnsüchte, Fragen, Ängste. Warum lesen wir denn?«
»Um etwas über die Welt zu erfahren«, schlug ich vor. »Über andere.«
»Das glaube ich nicht. Wir lesen immer nur uns selber. Die anderen sind doch immer nur ein Vorwand. Und wenn du schreiben würdest, dann würdest du das sofort bemerken. Schreiben heißt spiegeln. Wer eine Geschichte erzählt, bestimmt die Zahl, die Anordnung und den Schliff der Spiegel, die er aufstellt. Und er läuft als Erster durch den Raum, der dabei entsteht. Er schaut sich die Brechungen an, die Perspektiven, die unschönen Verzerrungen oder die schönen Verdoppelungen. Aber im Grunde ist er auch nur ein Leser, ein hoffentlich aufmerksamer Protokollant seiner eigenen Obsessionen und Projektionen. Insofern haben diese Leute vom INAT ja auch nicht ganz unrecht mit ihrer seltsamen Auffassung, dass der Autor tot sei. Nur ziehen sie daraus den falschen Schluss.«
»Inwiefern?«
»De Vander sagt doch: Es gibt gar keine Literatur, weil alles Literatur ist. Alles in der Sprache ist sinnbildlich, ein Spiegel eben, durch den man nicht hindurchgehen kann. Das meint er doch mit diesem Slogan von der Unhintergehbarkeit der Sprache. Und weil das so ist, behauptet er, die Welt sei ein letztendlich unlesbarer Text.«
»Und worin besteht deiner Meinung nach dann der Irrtum?«
»Genau darin. Vielleicht gibt es keine Literatur. Aber es gibt auch keine Texte. Es gibt nur uns und unsere tausend Fragen und Zweifel. Dass man mit der Sprache die letzte Wahrheit nicht sagen kann, mag ja angehen. Aber man kann sie erzählen. So sieht das jedenfalls einer meiner Lehrer. Er sagt, Erzählen sei die einzige Möglichkeit, sich selbst ins Gesicht zu sehen. Geschichten erzählen sei die Form unserer intimsten Selbstgespräche. Das ist doch etwas, oder? Wer hat das schon, außer uns?«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
»Und du?«, fragte er. »Wie stehst du eigentlich zu dieser ganzen Angelegenheit? Ich meine: als Literaturwissenschaftler?«
Kapitel 17
Seit unserer letzten gemeinsamen Schwimmstunde und dem anschließenden Frühstück waren wir uns nur in Miss Goldensons Seminar wiederbegegnet. Die Blicke, die wir dabei getauscht hatten, waren von der Art, dass sie alles und nichts bedeuten konnten. Da Janine nach dem Kurs immer gleich verschwand, entschied ich mich für Letzteres. Sie ging durchaus noch schwimmen, aber zu anderen Zeiten, wie ich einmal feststellte, als ich sie von Weitem mit feuchten Haaren in der Cafeteria von Pinewood Hall sah.
Ihr Rückzug musste irgendetwas bedeuten. Die leichte Beklemmung zwischen uns, der plötzlich komplizierte Umgang miteinander, ließ die Luft knistern, sobald wir aneinander vorübergingen oder auf dem Weg aus dem Seminarraum hinaus ein paar Worte wechselten. Sie zögerte immer einen Augenblick zu lange, wenn sie mir zu verstehen gab, dass sie es eilig hatte oder erklärte, dass sie mit ihren Hausarbeiten ziemlich im Rückstand sei. Ich ergriff keine Initiative mehr, sie privat treffen zu wollen. Umso überraschender war es, als sie mich zwei Wochen vor Trimesterende plötzlich von sich aus ansprach.
»Ich gehe heute in diesen neuen Wenders-Film«, hatte sie einfach gesagt. »Willst du nicht mitkommen?«
Es war sogar etwas Forderndes in ihrem Tonfall gewesen. Dont you want to come? Nicht etwa would you like to oder would you care to. Zehn Tage fast völlige Funkstille, und nun das?
Sie fuhr gegen halb acht vor meinem Haus vor und hupte zweimal, wie verabredet. Dann verließen wir den Campus landeinwärts, über eine der endlosen Straßen, an der Tankstellen, Schnellrestaurants, Elektrogeschäfte und Supermärkte einander abwechselten. Ein paar Meilen später verkündete eine turmhohe Leuchtreklame, dass wir das Movie World erreicht hatten. Es war nichts los. Die riesigen Parkflächen waren so gut wie leer. Janine lenkte den Wagen direkt vor den Kinoeingang. Die Sonne schien noch am wolkenlosen Himmel, wir trugen beide leichte Sommerkleidung, was mir umso mehr auffiel, als ich das Kinoplakat des Films entdeckte und darauf den grauen Himmel über Berlin.
Wir lösten die Karten, standen noch ein paar Minuten im extrem gekühlten Foyer des Kinos herum, bis Janine in weiser Voraussicht
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