Der gestohlene Abend
benennen wir das Unbenannte, las sie mit trauriger Stimme. Dort steht ein Mann, der weint uns zu, da, eine Frau, der hinter vorgehaltener Hand ein Lächeln aus den Augen rinnt.
Die Diskussionen danach verliefen eher matt und wohlmeinend, was meine Ansicht bestätigte, dass Diskussionen über Gedichte immer ein wenig heikel sind. Nur einer der Anwesenden, ein gewisser Brian, brachte etwas Leidenschaft in die Debatte, indem er in regelmäßigen Abständen bemerkte, im Grunde sei das doch alles Scheiße. Er las später auch noch, sogenannte Schizo-Gedichte. Seine Technik bestand vor allem darin, Wörter zu zertrümmern und dann neu zusammenzusetzen. Da tellerte Bläue im verpanzerten Sein und verschauerte vergrünend ein urrasendes Nichts oder so ähnlich. Allein ein bizarres Liebesgedicht, das er am Schluss dem von diesem Worthagel sichtlich erschöpften Publikum vortrug, hob sich ein wenig von dem wilden Gefasel ab. Der letzte Vers lautete: Der Zungenschlag deiner Augen und das Zwinkern deiner Lippen sind meine Lieblingstiere.
Die Prosatexte, die danach an die Reihe kamen, fand ich alle äußerst langweilig. Theo war der gleichen Meinung.
»Letztes Jahr gab es in Hillcrest einen Goldjungen«, erklärte er mir später in einem der wenigen Restaurants in Campusnähe, wo man hier am Samstagabend ein Bier trinken konnte. »Er hat mit seinem Erstlingsroman hundertfünfzigtausend Dollar Vorschuss geholt. Und jetzt schreiben alle so.«
»Und du, was schreibst du?«
»Nichts, das man vorlesen könnte. Ich übe. Ich fülle meine Werkzeugkiste. Im Moment sitze ich an einer Novelle von Maupassant. Ich lerne seinen Stil.«
»Aha. Wie das?«
»Ganz einfach: Ich nehme eine der sieben Storys, die es gibt, was weiß ich, Eifersucht, Betrug, Aufopferung, irgendetwas, und denke mir eine interessante Kombination aus. Dann schreibe ich daraus eine Szene in einem bestimmten Stil und schaue, was passiert, wie sich das anfühlt, wie das schmeckt.«
»Und dann?«
»Nichts. Das ist alles. Ich übe. Eine richtige Geschichte kommt dabei nicht heraus. Das soll es ja auch gar nicht. Niemand bekommt das zu sehen. Ich probiere mit bestimmten Stilen und Techniken herum. Man bekommt erst ein Gespür dafür, wenn man versucht, selber damit zu arbeiten.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel: Wie komme ich ganz nah heran? An eine Figur, oder in eine Situation.«
»Und? Wie macht man das?«
»Kennst du Heinrich Mann? Seine Biografie über Heinrich IV?«
»Nein.«
»Lies nur mal die inneren Monologe. Warum wirken die so authentisch? Ganz einfach: Er hat die Personalpronomen weggelassen. Schon hast du das Gefühl, du bist im Kopf der Figur. Oder die Verhörtechnik im Maggot von John Fowles. Das ist ungeheuer wirkungsvoll. Man ist sofort mitten im Geschehen. Das ist auch gar nicht so schwer, aber man muss draufkommen. Diese Techniken sind auch nicht neu. Vergleichbare Formen von Dada und Kubismus gab es ja schon im sechzehnten Jahrhundert. Eine Kunstepoche definiert sich ja fast immer anhand dessen, was gerade mal wieder alles vergessen worden ist.«
»Und das wird hier unterrichtet?«, fragte ich.
»Nein. Im Grunde wird hier gar nichts unterrichtet. Hier wird geübt, das ist alles.«
»Aber ist das nicht ziemlich schematisch? Klingt wie malen nach Zahlen.«
»Na und? Besser als stammeln in Hieroglyphen. Wie lernt man Tanzen? Wie lernt man Musizieren? Durch Technik und Vorbilder. Wie sollte man sonst lernen?«
»Eben. Ich glaube nicht, dass man Kunst lernen kann.«
»Da magst du recht haben. Aber Künstler müssen lernen. Nur Ignoranten glauben an Genies. Kunst kommt auch von Können. Und Können kommt von Üben. Die Ausnahmen von dieser Regel sind minimal. Wer auf Genie setzt, sollte lieber Lotto spielen, das ist sicherer. Kunst ist Technik, Arbeit und Talent. Und ich bin mir nicht einmal sicher, in welcher Dosierung das Talent eine Rolle spielt, denn wie weit einer am Ende wirklich kommt, wie viele Seelen er berührt und ob überhaupt, das entscheiden vermutlich ohnehin die Götter.«
»Und du? Der Autor? Was entscheidest dann du?«
»Viel zu arbeiten und zu welchen Lehrern ich in die Schule gehe.«
Ich griff nach einem Hähnchenflügel und leckte die scharfe Paprikasoße ab.
»Ich dachte immer, man schreibt, um etwas auszudrücken.«
Theo zog die Mundwinkel herunter.
»Wer etwas ausdrücken muss, der soll aufs Klo gehen«, sagte er abfällig. »Es geht eher ums Weglassen. Form geben. Gestalten. »
»Und was genau gestaltet Kunst
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