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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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nicht untersuchen? Sie greift direkt in unser Leben ein.«
    »Ich fürchte, da bist du falsch unterrichtet«, erwiderte Theo. »Das Großartige an der neuen Theorie soll doch sein, dass Sprache endlich als von der Welt getrennt betrachtet werden kann. Für die Leute im INAT berühren sich Sprache und Welt überhaupt nicht. Wer das Gegenteil glaubt, gilt für die als naiv.«
    Ich griff nach meinem Kaffee. Sprache und Welt berührten sich nicht? Das war in der Tat eine merkwürdige Auffassung.

Kapitel 14
    Wie immer kamen mir die besten Antworten erst, als ich wieder allein war. Ich dachte an die Aufsätze über Kleist, die in der Bibliothek auf mich warteten. War nicht gerade Kleist ein Fall, der Theos Behauptungen widerlegte? Er war kein Pfarrerssohn, sondern Adliger. Die Welt hatte er nicht aus der Schreibstube heraus, sondern direkt und brutal an sich selbst erfahren, als preußischer Soldat, im Krieg und als Kriegsgefangener. Das Leben und die Machtverhältnisse am Hof, das Getriebe der großen Politik, kannte er aus erster Hand. Es gab sogar Anhaltspunkte dafür, dass er als Wirtschaftsspion eingesetzt worden war. Und von den Tücken in Kommerz und Handel konnte er als mehrfach gescheiterter Verleger ebenfalls ein Lied singen. Doch kaum stellte ich mir vor, wie ich Theo diese Einwände vortragen würde, hörte ich auch schon seine Antwort. Sicher, würde er sagen, Kleist fällt völlig aus dem Raster. Deshalb ist er ja so großartig.
    Ich hatte auf dem Rückweg zur Bibliothek eine falsche Abzweigung genommen. Mein Versuch, diesen Fehler durch eine Abkürzung zu korrigieren, führte durch Büsche und Hecken an einen unüberwindlichen Zaun. Von hier schien es einfacher zu sein, um das Bibliotheksgebäude herum und auf der anderen Seite die Böschung wieder hinaufzugehen. Ich folgte dem Zaun, der irgendwann am Sockel des Gebäudes endete, ging dann an der Rückseite entlang und stand plötzlich vor einem Eingang, von dessen Existenz ich bisher gar nichts gewusst hatte. Ich rüttelte an der geschlossenen Glastür und entgegen meiner Erwartung ließ sie sich ohne Probleme öffnen. In der klimatisierten Luft fühlte ich mich sofort wohler. Ich erwartete ein Pförtnerhäuschen, denn eine Kontrolle musste es hier ja auch geben. Doch auch nach der dritten Treppe war nichts dergleichen zu sehen. Ich kam an geschlossenen Metalltüren mit unverständlichen Abkürzungen vorbei. Ich blieb stehen. Das war kein Eingang zur Bibliothek. Jedenfalls kein offizieller. Waren das hier Büros? Oder Lagerräume? Ich hatte hier bestimmt nichts zu suchen. Verstimmt trat ich den Rückweg an, als ich plötzlich Stimmen hörte. Zwei Treppen unter mir öffnete sich eine Tür, und die Stimmen wurden lauter. Ich blieb unschlüssig stehen, denn ich war mir jetzt sicher, dass die Eingangstür dort unten nur aus Unachtsamkeit offen gewesen war.
    »Ich verstehe es einfach nicht, David. OK? Ich VERSTEHE es nicht!«
    Es war die Stimme einer Frau. Jemand antwortete, aber leise. Ich konnte lediglich hören, dass es eine männliche Stimme war.
    »NATÜRLICH NICHT«, rief die weibliche Stimme mit Nachdruck und wurde dann wieder leiser. Ich beugte mich ein wenig nach vorn und schielte über das Geländer. David stand dort unten. Die Frau, die eindringlich auf ihn einredete, hatte ich noch nie gesehen. Bevor ich noch lange spekulieren konnte, wer sie war, hörte ich ihren Namen aus Davids Mund.
    »Marian, vergiss es, ja? Ich will nicht darüber reden. Vergiss es einfach.«
    »Was bildest du dir ein?«, zischte sie mit unterdrücktem Zorn.
    Plötzlich war David nicht mehr zu sehen. Ich hörte Schritte und dann das Zuschlagen einer Tür.
    Ich wich vom Geländer zurück und drückte mich so fest gegen die Wand, wie ich konnte. Mein Gott, wie peinlich, dachte ich. Wenn sie jetzt die Treppe heraufkam und mich hier sah? Marian. Das musste sie sein. Die berühmte Marian Candall-Carruthers!
    »Damn!«, hallte es plötzlich zu mir herauf. Dann entfernten sich auch ihre Schritte. Wieder fiel eine Tür mit einem scheppernden Geräusch ins Schloss. Jetzt fehlte nur noch, dass sich ein Schlüssel drehte und ich hier eingesperrt war. Aber dem war glücklicherweise nicht so. Als ich nach einigen Minuten an der Glastür angekommen war, ließ sie sich wie zuvor mühelos öffnen. Weder Marian noch David waren irgendwo zu sehen.
    Auf Kleist und den Findling konnte ich mich an jenem Tag nicht mehr konzentrieren. Ich saß stundenlang da, versuchte zu lesen und kaute viel auf

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