Der gestohlene Abend
einem Stift herum. Was für ein komischer Typ war dieser David eigentlich? Seine Freundin ging mit anderen Männern aus. Mit seiner Professorin redete er ziemlich respektlos und ließ sie einfach stehen, wenn es ihm passte.
Gegen halb sieben blickte ich um mich. Überall saßen Studenten und Studentinnen herum und lasen oder schrieben. Es war Sonntagabend, und kein einziger Tisch war unbesetzt. Sogar Frederic Miller saß bei den Bibliografien und schien tatsächlich zu arbeiten. Ich überflog lustlos die Liste der Kleist-Aufsätze, die ich gesammelt hatte und kommentieren sollte. Hatte Theo nicht recht? Was war denn an diesen ganzen Artikeln schon Wissenschaft? Die meisten Aufsätze, die ich bisher gelesen hatte, waren kaum mehr als hochtrabend formulierte Geschmacksurteile. Eine ganze Industrie lebte davon, eine Industrie des Sekundären, des Kommentars, der Paraphrase.
Bevor ich Schluss machte, ging ich noch einmal zum Regal, wo die MLA-Bibliografie stand. Hier begann alles. Man musste nur irgendeinen toten oder kanonisierten lebenden Autor nachschlagen und fand sofort sämtlich Aufsätze und Studien, die zwischen Buenos Aires und Osaka, zwischen Johannesburg und Hammerfest in einer der knapp viertausend ausgewerteten wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen waren. Die grauen, dickleibigen Folianten nahmen ein komplettes Regal in Anspruch. Neuerdings erschienen schon zwei Bände pro Jahr, um die gesammelte Weltjahresproduktion geistes-und literaturwissenschaftlicher Studien systematisch aufzulisten. Immerhin fast vierzigtausend Bücher und Aufsätze waren im letzten Band verzeichnet. Ich blätterte zu Shakespeare und überflog die lange Liste der Eintragungen. Sie zogen sich über viele Seiten. Es war einfach ein Irrsinn. Ein ganzes Shakespeareleben würde nicht ausreichen, um die Produktion der Shakespeareforschung eines einzigen Jahres auch nur zu lesen. Und ausgerechnet diesen gewaltigen Haufen wollte David in drei Wochen mit seinem Vortrag krönen.
Kapitel 15
»Zeigst du mir die Rollwende?«, fragte sie.
Wir hatten den Pool für uns. Selten schwamm hier jemand schon um halb acht Uhr morgens. Erst mittags wurde es voll.
Ich tauchte unter der Absperrleine hindurch und kam neben ihr wieder hoch.
»Im Grunde ist es ganz einfach«, sagte ich und erklärte ihr die Technik.
Ich ging auf Tauchstation und sah zu, wie sie den ersten Versuch unternahm. Sie zog die Arme schön durch, hatte auch einen ganz passablen Beinschlag. letzt kam der kritische Moment. Luft holen, noch ein Zug, dann in die Rolle, ausatmen, ausatmen, abstoßen, drehen, dabei den Rumpf... aber ich sah schon, dass es nichts wurde. Sie schlug mit den Beinen und tauchte auf.
»Ekelhaft, das ganze Wasser in der Nase«, hörte ich sie schimpfen, als ich neben ihr hoch kam.
»Du musst die ganze Zeit über ausatmen, solange du den Purzelbaum schlägst.«
»Ich bin blockiert. Sobald mein Kopf nach unten geht, halte ich den Atem an.«
»Das ist normal. Komm, wir machen eine Übung.«
Wir schwammen ans andere Ende. Hier konnte man stehen, und außerdem lag dieser Teil des Pools in der Morgensonne. Das Wasser ging uns bis über die Brust, aber ich hatte noch genug Halt auf dem Beckenboden, um sie zu stützen. Ich umfasste ihre Taille. Sie warf mir einen irritierten Blick zu, ließ mich aber gewähren.
»Jetzt kopfüber nach unten und erst einmal um die eigene Achse. Ich halte dich. Die ganze Zeit ausatmen, OK?«
Sie tat, was ich ihr gesagt hatte. Der erste Versuch scheiterte noch. Aber dann ging es. Prustend kam sie wieder hoch, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, probierte es jedoch gleich noch einmal. Meine Hände hielten unverändert ihre Taille. Es blieb auch nicht aus, dass ihre Schenkel meinen Arm streiften, und einmal spürte ich ihre orientierungslose Hand auf meiner Wade. Als sie den Purzelbaum mehrmals gemeistert hatte, ließ ich sie wieder los.
»OK, jetzt ohne mich.«
Sie kraulte mit kräftigen Zügen zum anderen Beckenrand. Kurz vor der Wand tauchte sie ab. Einen Augenblick später tauchte sie wieder auf. Es war vollbracht. Sie kam wieder herangeschwommen, blieb vor mir stehen, streckte triumphierend die Arme in die Luft.
»Geschafft!«
Ich nahm nur die weiche, helle Haut ihrer Achselhöhlen wahr und die Wölbung ihrer Brüste seitlich an ihrem Badeanzug. Und einen freudigen Glanz in ihren hellen Augen, als sie die Chlorbrille abnahm.
Wir frühstückten auf der Terrasse der Cafeteria des Geologiegebäudes, das näher lag
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