Der gestohlene Abend
Sorry.«
Ich strich über ihr Haar und suchte nach einem Satz, der uns von diesem heiklen Thema wegbringen würde. Minutenlang sagte keiner von uns etwas. Dann war es Janine, die doch wieder auf David zurückkam.
»Es geht schon seit September abwärts mit uns«, sagte sie leise, »seit seiner Rückkehr aus Europa. Er war einfach komisch. Ohne jede Vorwarnung. Er hat sich verändert. Willst du das wirklich alles hören?«
»Eigentlich schon, ja. Aber nur wenn du willst.« »Er war einfach merkwürdig. Ich dachte, es gibt sich wieder. Wir hatten schon vor dem Sommer ausgemacht, dass wir nach seiner Rückkehr ein paar Tage nach Oregon in die Berge fahren wollten. Seine Familie lebt ja in Portland. Er fuhr Ende September für ein paar Tage zu ihnen, und ich sollte nachkommen. Doch als ich in Portland ankam, da eröffnete er mir, dass er Jom Kippur feiern wollte. Weißt du, was das heißt?«
»Nein. Nicht so genau. Ich weiß nur, dass es ein jüdischer Feiertag ist.«
»Ja. Man fastet und trauert. Vor allem lädt man keine Nichtjuden zu sich nach Hause ein. Ich kannte seine Eltern überhaupt nicht. Ich wusste, dass er aus einer jüdischen Familie kommt, aber als wir vorher darüber gesprochen haben, sagte er noch, er fühle sich so jüdisch wie ein geräucherter Schinken. Es war nie ein Thema zwischen uns. Glücklicherweise. Bis du religiös?«
»Wie ein gekochter Schinken.«
»Gut, blöde Frage. Religion ist für mich Privatsache, etwas, das man praktiziert, nicht etwas, worüber man viel redet. Er hätte mich ja anrufen können. Warum ließ er mich nach Portland kommen, wenn er doch wusste, dass es völlig unpassend war? Einen dümmeren Zeitpunkt, mich seiner Familie vorzustellen, hätte er überhaupt nicht wählen können. Die bemühten sich natürlich, luden mich zum Essen ein, mittags um drei, denn das muss ja alles vor Sonnenuntergang erledigt sein. Danach brachte David mich zu einem Hotel in der Nähe.«
»Warum denn das?«
»Es war mir sowieso lieber. Sollte ich in diesem Haus herumsitzen, während um mich herum alle bedrückt über ihr Schicksal nachdachten? Dazu die Gänge in die Synagoge. Das Leben bleibt ja völlig stehen. Kein elektrisches Licht, kein Auto, kein gar nichts eben. Es ist eine Zeit der Abbitte. Er bestand darauf, mich zum Hotel zu begleiten, zu Fuß natürlich. Ich hatte also nicht einmal einen Wagen. Ich verbrachte den ganzen nächsten Tag in diesem Hotel, wo es außer fernsehen nichts zu tun gab. Also ging ich spazieren. Hier und da sah ich Familien orthodoxer Juden auf dem Weg zu ihrer Synagoge. Versteh mich nicht falsch. Aber das alles gab mir zu denken. Warum beging er plötzlich Jom Kippur? Wie würde sich das weiterentwickeln? Ich dachte ja nicht an Heirat oder dergleichen, aber wir waren immerhin ein Liebespaar, oder? Dazu gehört für mich ein offener Horizont, die Möglichkeit für alles. Der war nun erst einmal eingetrübt.«
»Aber ihr seid dann doch noch in die Berge gefahren?«
»Ja. Sicher. Zwar nur zwei Tage, aber es war sehr schön. Wir sind gewandert, haben in einer romantischen Pension übernachtet, in einem Bett mit Quilt-Decke und einem Zimmer im Laura-Ashley-Design. Wir hatten sogar guten Sex.«
Sie unterbrach sich.
»Stört dich das, wenn ich das so sage?«
»Nein.«
Sie küsste zärtlich meine Nasenspitze und fuhr mit ihrem Finger über meine nackte Brust.
»Komm. Sei ehrlich.«
»Ja. Es stört mich.«
»Siehst du. Genau das will er. Uns stören. Aber ich lasse ihn nicht.«
Kapitel 30
Ein paar Tage lang sah und hörte ich nichts von ihm. Dann stand er plötzlich vor meiner Wohnungstür.
»Hi, Matthew. Bist du beschäftigt?«
Ich war völlig verdutzt.
»Ich esse gerade«, sagte ich.
»Oh, na dann. Kann ich vielleicht später noch mal wiederkommen? Ich wollte dich etwas fragen.«
»Später? Nein, wieso? Komm herein. Ich bin sowieso fast fertig.«
Ich trat zur Seite. Er schaute sich kurz um, ging dann zum Sofa, schob ein paar Kleidungsstücke von mir beiseite und setzte sich.
»Entschuldige das Durcheinander.«
»Nicht der Rede wert.«
Ich trug meinen fast leeren Teller in die Kochnische und versenkte ihn in der Spüle.
»Darf ich rauchen?«, fragte er.
»Ja. Klar.«
Er bot mir auch eine an, und ich griff zu.
»Wie geht's Janine?«, fragte er nach dem ersten Zug.
»Gut«, antwortete ich.
»Ich frage nur aus Höflichkeit«, setze er hinzu. »Wie ich sie kenne, fände sie es entsetzlich zu wissen, dass wir über sie reden.«
»Da kennst du
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