Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
Vom Netzwerk:
heißt, die Piaton hier gebraucht?«
    Erneut herrschte völlig Funkstille. Marian wartete nicht lange.
    »Prosopopeia«, sagte sie. »Die Stimme, die von jenseits des Grabes spricht. De Vander hat sich die letzten Jahre seines Lebens sehr intensiv damit beschäftigt. Aber jetzt zurück zu Schiller.
    Was dann folgte, hinterließ in meinem Notizheft nur ein Sammelsurium von unzusammenhängenden Schlagwörtern, das ich schon am Nachmittag nicht mehr rekonstruieren konnte. Wie um alles in der Welt ich in den nächsten Wochen eine eigenständige Idee für eine Hausarbeit entwickeln sollte, war mir ein Rätsel. Das Einzige, was mich davon abhielt, sofort die Flinte ins Korn zu werfen, war mein Verdacht, dass der Abstand zwischen mir und den anderen Studenten nicht ganz so groß war, wie ich befürchtet hatte. Marian war genial. Meine Mitstudenten hingegen hatten lediglich einen enormen Lesevorsprung vor mir. Und den konnte ich aufholen.

Kapitel 28
    »Willst du ihn mal sehen?«
    Ich schrak hoch. David stand neben meinem Tisch und schaute auf mich herab.
    »Man liest ihn ganz anders, wenn man ihn erlebt hat. Ich habe ein paar alte Filmaufnahmen. Keine Lust?«
    Neben mir lag der zweite Band von De Vanders gesammelten Schriften, leicht zu erkennen an dem giftgrünen Einband. Aus Verlegenheit schaute ich auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach Mitternacht. Nur wenige Tische waren noch besetzt. Hatte er diese Gelegenheit extra abgepasst, um mich allein zu treffen? Denn ansonsten war ich ja in jeder freien Minute mit Janine zusammen. Sie war die Erste gewesen, die ihre eigenen strengen Regeln gebrochen hatte. Wir verbrachten zwar nicht jede Nacht zusammen, aber natürlich sahen wir uns jeden Tag und meistens auch abends. Das Wochenende hatten wir außerhalb des Campus verbracht. Wir waren mit einem Walbeobachter-Schiff nach Catalina Island gefahren und hatten auf der Rückfahrt tatsächlich zwei Grauwale gesichtet. Nach einem romantischen Abendessen in San Clemente hatte Janine mich dann damit überrascht, dass sie in dem Städtchen ein Zimmer gebucht hatte. Wir hatten beide die Nacht so genossen, dass wir auch die nächste noch blieben und erst am Montag früh zurückgekommen waren.
    »OK«, sagte ich, stand auf und folgte ihm. Den Weg kannte ich ja schon. Die Metalltür, das Treppenhaus, die Tür zum Archiv. Neu war Davids Aufmachung. Er hatte die Haare geschnitten. Außerdem trug er keine Jeans, sondern Leinenhosen und ein gebügeltes Hemd. Fand er mich auch verändert? Oder warum sah er mich so an? Nicht unfreundlich, aber auf eine Art und Weise, die mich verunsicherte. Warum lud er mich noch mal in sein Büro ein? Fragte er sich vielleicht, was Janine an mir fand?
    David verschwand kurz im mittleren Archivraum und kehrte mit vier Videokassetten zurück. Er schob eine in das Gerät hinein und schaltete den Monitor an.
    »Es sind Aufnahmen aus den späten Siebzigerjahren«, sagte er. »Der Meister höchstselbst. Willst du ein Bier?«
    Ohne meine Antwort abzuwarten, schob er mir eine Dose hin und öffnete sich selbst auch eine. Dann nahm er auf seinem Sessel Platz, legte die Beine auf den Schreibtisch und drehte per Fernbedienung die Lautstärke auf. Es war merkwürdig, De Vanders Stimme zu hören. Nie im Leben hätte ich sie mir so vorgestellt. Sein geschriebenes Englisch war perfekt. Aber seine Aussprache! Er rollte das R stark. Das Englische th schien ihm völlig egal zu sein. Oder er war einfach nicht dazu fähig, es auszusprechen. Soeben wollte er offenbar sagen The truth is..., doch was man zu hören bekam, war de trut is...
    Ich machte es mir auf dem Sessel vor Davids Schreibtisch bequem und trank einen Schluck.
    »1978«, sagte David. »Yale. Das Rousseau-Seminar.« Er spulte vor, bis die Kamera einen Schwenk durch den Zuhörerraum machte. Nach meiner Schätzung saßen da fünfzig oder sechzig Studenten. Andächtig lauschende Gesichter zogen auf dem Monitor vorüber. De Vanders Stimme blieb die ganze Zeit zu hören. Plötzlich erkannte ich Marian. Die junge Marian. David hatte mich beobachtet und erwiderte meinen überraschten Blick mit einer unergründlichen Grimasse. Er zog beide Augenbrauen nach oben und spitzte die Lippen.
    »Sie promovierte damals noch«, sagte er, als hätte ich danach gefragt.
    »Schaust du dir das oft an?«
    Er spulte wieder zurück und spielte erneut die Sequenz mit den andächtig lauschenden Gesichtern ab.
    »Du interessierst dich für seine Gedanken«, sagte er, ohne meine Frage zu

Weitere Kostenlose Bücher