Der gestohlene Abend
sie gut. Aber wir reden ja nicht über sie.«
Er zog an seiner Zigarette, blies den Rauch aus und sagte: »Ich wollte dich fragen, ob du mir einen Absatz aus einer niederländischen Zeitung übersetzen kannst.«
»Ich spreche kein Niederländisch«, entgegnete ich.
»Aber Deutsch ist doch ähnlich, oder? So wie Spanisch und Portugiesisch.«
»Das funktioniert nur in eine Richtung. Niederländer verstehen wohl gut Deutsch, aber ich glaube nicht, dass ich Niederländisch verstehe. Gibt es hier an der Uni niemanden, der Niederländisch kann?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Vielleicht probieren wir es einfach aus. Es sind nur ein paar kurze Passagen. Hier.«
Er reichte mir einen Zeitungsartikel, der in einer Klarsichthülle steckte. Menschen en Boeken stand in der Überschrift. Blik op de huidige Duitse romanliteratuur.
»Was ist das?«
»Ein Zeitungsartikel. Von 1942.«
»Aha«, erwiderte ich.
»Die Überschrift ist einfach, nicht wahr?«, fragte er und wechselte ins Deutsche, das er mit starkem Akzent sprach: »Menschen und Bücher. Blick auf die heutige deutsche Romanliteratur.«
»Ja. Das ist in der Tat ähnlich.«
Ich begann zu lesen. Toen, enkele maanden geleden, de mooie tentoonstelling van het Duitse boek in Brüssel gehouden werd, kon men zieh ervan rekenschap geven hoe weinig de overgrote meerderheid der bezoekers van de wäre beteekenis der huldige Duitse letterkunde afwist.
Es war ein komisches Gefühl. Ich konnte in groben Zügen tatsächlich verstehen, was da stand. David wartete neugierig.
»Also, es geht da wohl um irgendeine Veranstaltung zum deutschen Buch in Brüssel, wo nach Auffassung des Autors die Mehrheit der Besucher feststellen musste, dass sie die wahre Bedeutung der deutschen ... tja, letterkunde, das ist vielleicht Schreibkunst oder Schriftstellerei...?«
»Vielleicht einfach Literatur?«
»Ja, möglich. Aber im Titel steht Literatuur. Na ja, aber so etwa. Jedenfalls beklagt der Autor, dass diese deutsche letterkunde nicht ausreichend bekannt sei.«
Er nickte zufrieden.
»Und dann?«
Ich musterte das Blatt. Der Artikel zog sich über zwei längere Spalten hin. Korrekt übersetzen konnte ich das auf keinen Fall. Ich konnte höchstens hier und da lückenhaft zusammenfassen und intelligent raten, was da stand. Das würde mindestens eine Stunde dauern und nicht nur ein paar Minuten. Und vor allem stellte sich die Frage, warum er damit ausgerechnet zu mir kam.
»Was ist das überhaupt?«, fragte ich.
»Wie ich schon sagte: eine Zeitung aus dem Zweiten Weltkrieg.«
»Und wer hat den Artikel geschrieben?«
»Der hier ist nicht gezeichnet. Es sind Propagandaschriften von Nazi-Kollaborateuren aus Flandern. Für Marian. Sie bereitet für nächstes Jahr eine Konferenz darüber vor: Sprache in der Diktatur.«
Das war ja interessant. Er arbeitete also noch für Marian. Dann hatte er seine Differenzen mit ihr inzwischen beigelegt.
»Mich interessiert vor allem die Passage da unten.« Sein Finger deutete auf eine markierte Textstelle. »Ich habe zwar die Wörter nachgeschlagen, die ich nicht kenne, aber die Wortstellung und Grammatik sind für mich einfach zu schwierig. Was meinst du?«
Ich versuchte, den Absatz zu übersetzen, kam aber nicht weit. »Indien we de naoorlogsche litteraire productie in Duitsland nagaan ... was heißt Indien.«
»Wenn«, antwortete er. »Und naoorlogsche litteraire productie heißt Nachkriegsliteratur.«
»Hast du die englischen Wörter irgendwo aufgeschrieben?«
»Ja. Hier.«
Er reichte mir ein Blatt, ein regelrechtes Glossar. Ich überflog die Zeilen und las den ganzen Abschnitt dann mehrmals durch. Nach dem dritten Mal war ich mir sicher, alles verstanden zu haben, was allerdings nicht sehr angenehm war.
»Das ist ziemlich widerliches Zeug«, sagte ich. »Aber wahrscheinlich typisch für die Zeit. Hier steht, es gebe in Deutschland seit dem Krieg zwei Tendenzen: eine abstrakte, intellektuelle und eine im eigentlichen Sinne deutsche Kunst, die ernsthaft und spirituell sei. Die gekünstelte Tendenz sei hauptsächlich von Nichtdeutschen und vor allem von Juden beherrscht. Da gerade sie bevorzugt übersetzt würden, sei im Ausland der falsche Eindruck entstanden, sie repräsentierten das wahre Deutschland. Tatsächlich gebe es dort aber eine Gruppe, die sich dieser Entartung erfolgreich widersetzt hätte, echt deutsche Autoren wie Hans Carossa, Ernst Jünger, Herman Stehr...«
Ich warf den Artikel und Davids Glossar neben ihn
Weitere Kostenlose Bücher