Der gestohlene Abend
mich auf dem Heimweg eine vertraute Stimme ansprach.
»Hallo. Matthew?«
Es war John Barstow. Ich hatte ihn überhaupt nicht auf der Sitzbank bemerkt, an der ich gerade vorbeiging. Ich blieb sofort stehen.
»Hi, Professor Barstow.«
»Wie läuft es denn so?«
»Danke, ganz gut. Und wie geht es Ihnen?«
»Ich wollte schon länger mal wieder mit Ihnen reden, Matthew. Haben Sie es eilig?«
Ich setzte mich neben ihn auf die Bank.
»Wie ist es denn so bei Marian?«, fragte er. »Entspricht es Ihren Erwartungen?«
»Ja. Das heißt, ich hatte keine sehr klaren Erwartungen.«
»Aber der Kurs gefällt Ihnen?«
»Ja. Auf jeden Fall.«
Er warf einen Blick auf die Bücher, die ich mit mir herumtrug, Band I und II von De Vanders gesammelten Schriften und eine englische Ausgabe von Kleists Schriften und Essays.
»Ich habe gehört, dass David Lavell nicht im Seminar ist«, fuhr er dann fort. »Stimmt das?«
»Ja.«
»Wissen Sie, warum?«
»Nein.«
»Hat Marian nichts dazu gesagt?«
»Nein. Jedenfalls nicht zu mir. Vielleicht wissen die anderen etwas darüber.«
Warum fragte Barstow mich das? Aber die nächste Frage war noch viel direkter.
»Haben Sie mit David gesprochen?«
Die Frage war mir unangenehm. Was ging ihn das an?
»David ist ein sehr begabter Bursche, Matthew. Aber sein Vortrag war eine, wie soll ich sagen, eine etwas heikle Vorstellung. Und seither ist sein Verhalten nicht unbedingt besser geworden. Ich würde gern herausfinden, was mit ihm los ist. Sie wissen das nicht zufällig?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sollten Sie das nicht lieber ihn selbst fragen? Ich kenne David kaum.«
»Das mag sein. Aber Sie sind im Moment offenbar der Einzige, mit dem er überhaupt Kontakt hat.«
Barstows Augen ruhten auf mir. Ich kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass die Miene, die er aufgesetzt hatte, Wohlwollen bedeuten sollte. Aber ich misstraute ihm plötzlich. Gehörte es sich, Studenten über andere Studenten auszuhorchen?
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Ein Campus ist kein Polizeistaat. Leider, denn dann hätte man zumindest die Chance, sich noch ein paar Geheimnisse zu bewahren.
Leider ist das hier aber eine Waschküche. Und selbst wenn ich mir wie Odysseus die Ohren verstopfe, erfahre ich alles. Sie haben etwas mit Davids Freundin, nicht wahr?«
Was sollte ich schon sagen? Ich schwieg einfach.
»Seit der Talent Lecture redet David mit niemandem mehr. Außer mit Ihnen. Auch das haben mir die Sirenen zugeflüstert. Um das Privatleben meiner Studenten kümmere ich mich normalerweise nicht. Aber Davids Vortrag hat eine gewisse Grenze überschritten. Das war zwar sehr gute Literaturwissenschaft. Aber zugleich war es äußerst schlechte Politik. Das wissen Sie ja wohl auch, oder?«
Ich dachte an Gerdas Wutausbruch bei Winfried.
»Es gibt Leute, die das so sehen, ja.«
»Und Sie? Wie sehen Sie das?«
Ich wurde nervös. Meine Gedanken schössen davon. Ich saß wieder in Marians Büro. Wie sie mich damals gemustert hatte, als ich alles daransetzte, in ihren Kurs hineinzukommen. Ihre Körperhaltung hatte Bände gesprochen. Sie hatte mich los sein wollen. Aber etwas hatte sie damals zurückgehalten. Hatte Barstow Macht über Marian? Wie naiv ich doch war. Barstow saß in der Berufungskommission. Er war in Hillcrest sehr einflussreich. Und er mochte Marian nicht sehr, das hatte er ja bereits durchscheinen lassen. Gerda hielt Barstow sogar für einen Strippenzieher. Dieses Gespräch wies durchaus in diese Richtung. Hatte er Marian durch mich provozieren wollen? Oder testen? Und benutzte er mich jetzt wieder? Weil ihm David ein Rätsel war? Denn offenbar hatte Gerda in diesem Punkt falschgelegen. Barstow tappte im Hinblick auf David völlig im Dunkeln.
»Hören Sie mir zu, Matthew?«
»Aber ja. Sicher.«
Er atmete tief durch. Auch dieses Zeichen konnte ich lesen. John Barstow war jetzt irritiert.
»David ist ein absoluter Ausnahmestudent, Matthew. In einem absoluten Ausnahmeinstitut, dessen Gedeih und Verderben für die ganze Universität von sehr großer Bedeutung sind. Ich halte sehr viel von David. Deshalb frage ich Sie so direkt. Nicht weil ich hier den Aufseher spielen will. Sondern weil ich mir Sorgen um ihn mache. Nichts weiter. Dieses Gespräch fällt mir schwerer als Ihnen, das kann ich Ihnen versichern.«
Ich schaute ihn verwirrt an und wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte.
»Ich habe keine Ahnung, was mit David los ist«, sagte ich.
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