Der gestohlene Abend
beantworten. »Das ist der Mensch, der dazugehört.«
Er verstummte wieder und ließ das Band laufen. Ich schaute auf die Mattscheibe. Einerseits gefiel es mir, hier mit ihm zu sitzen. Anderereseits konnte es nur mit Janine zusammenhängen. Warum sollte er sich sonst für mich interessieren? Ich fürchtete, dass er jeden Augenblick auf sie zu sprechen kommen würde. Und dass er das nicht tat, machte es fast noch schlimmer.
»So war das immer«, sagte er nach einer Weile. »Jacques sprach. Niemand verstand so recht, was er eigentlich sagte, aber alle waren wie verzaubert. Er war wirklich ein Meister.«
Jetzt würde ich beim Lesen seiner Texte immer diese Stimme hören, dachte ich. Den merkwürdigen Akzent, den etwas schleppenden Vortragsstil. De Vander endete immer mit einer einfachen Frage. Aber so wie er sie stellte, hatte man plötzlich den Eindruck, es sei ein gewaltiges Geheimnis darin verborgen. Nicht in der Frage, sondern in der Tatsache, dass sie überhaupt gestellt wurde. »Was also ist ein Name?«, hörte ich aus dem Lautsprecher. »Was bedeutet es: einen Namen zu geben?«
Die Kamera fuhr wieder durch den Raum. Gespannte, erwartungsvolle Gesichter. Aber keine Antwort. Jedenfalls gab De Vander keine. War das die Hausaufgabe? Oder käme die Antwort später? Aus den Augenwinkeln beobachtete ich David. Er starrte auf den Monitor. Plötzlich fing er leise an zu kichern. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Er wurde mir ein wenig unheimlich.
»Gut, nicht wahr?«, sagte er. »Wie er sie alle in seinen Bann schlägt. Wie macht er das?«
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Warum hast du diesen Vortrag gehalten, David?« »Du bist ein netter Typ, Matthew. Wirklich. Ich werde es dir irgendwann mal erzählen.«
Er kicherte wieder. »Schau ihn dir an. Hier... das Interview. Das musst du dir anhören. Es ist einfach zu gut.«
Er spulte vor. Szenen aus Seminaren wechselten sich mit Sequenzen ab, in denen De Vander an verschiedenen Orten und anscheinend auch zu unterschiedlichen Zeiten Interviews gab. Es waren keine offiziellen Interviews, dafür waren sie zu amateurhaft gemacht. Hatten Studenten ihn interviewt? Oder Freunde? Ich fragte David nicht. Ich wollte gehen. Ich fühlte mich unwohl mit ihm allein, spätnachts, hier in diesem Archiv, mit Filmschnipseln von seinem Lehrer, den er neuerdings offensichtlich ebenso gering schätzte wie Marian. »Ah, hier. Hör dir das an.«
De Vanders Gesicht war wieder in Großaufnahme zu sehen. David konnte sagen, was er wollte, der Mann war beeindruckend. Er war charmant. In seinen Augen glänzte Leidenschaft, wenn er sprach. Außerdem strahlte er Ehrlichkeit aus, Redlichkeit. Dem Mann ging es um etwas. Und das sprang über. Jedenfalls auf mich.
»Für die Beschäftigung mit literarischen Texten ist es sinnlos, sich mit den Lebensumständen ihrer Autoren auseinanderzusetzen. Es ist überflüssig und töricht. Vor allem lenkt es
von dem ab, womit wir uns eigentlich beschäftigen müssten:
den Texten selbst. Viel zu lange haben wir den zweiten Schritt
vor dem ersten gemacht. Denn was ist eigentlich ein Text? »
David lachte leise.
Kapitel 29
»Willst du dich mit ihm anfreunden?«, fragte Janine, als ich ihr von unserem Treffen erzählte. Der Unterton in ihrer Stimme ließ mir wenig Spielraum zum Antworten.
»Er hat mich angesprochen. Soll ich mich weigern, mit ihm zu reden?«
»Kannst du dir nicht denken, warum er das getan hat?«
Ich stützte mich auf den Ellenbogen und wollte ihr Profil betrachten. Aber sie drehte sich weg.
»Ehrlich gesagt: nein.«
»Ein besonders guter Psychologe bist du nicht gerade«, sagte sie in das halbdunkle Zimmer hinein.
»Das habe ich nie behauptet.«
»Würdest du das auch machen? Den neuen Freund deiner Ex aufsuchen, mit ihm reden wollen?«
»Das kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Auf meine Ex, wie du so schön sagst.«
Sie richtete sich auf. »Kannst du mir das bitte genauer erklären?«
»Ich glaube, dass die Sache für ihn noch nicht zu Ende ist. Deshalb kommt er zu mir.«
»Die Sache ist aber zu Ende. Und ohne dich verletzen zu wollen: Es hat nicht in erster Linie etwas mit dir zu tun, dass David dich anspricht.«
»Und womit hat es zu tun?«
Sie schnaufte tief, bevor sie antwortete. »Findest du es normal, dass wir hier im Bett liegen und über David reden? Kann es sein, dass er dich aus genau diesem Grund aufsucht? Ich will nicht über ihn reden. Verstehst du das nicht?« »Doch. Natürlich.
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