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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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schon erheblich unpräziser.
    »Er trifft irgendeine Unterscheidung, aber ich kann mich nicht daran erinnern.«
    »Kennt denn sonst niemand den Text?«, fragte Marian unwirsch und schaute auch mich kurz an.
    Schweigen.
    »Im dritten Buch der Politeia erklärt Sokrates seinem Schüler Adeimantos den Unterschied zwischen erzählender und darstellender Vortragsweise. Im zehnten Buch kommt er noch einmal darauf zurück und erklärt genauer, warum die darstellenden Dichter im idealen Staat kein Bleiberecht genießen. Er unterscheidet zwischen einem Wesensbildner, einem Werkbildner und einem Nachbildner. Das muss Ihnen doch geläufig sein?«
    »Die Sache mit dem Tisch?«, warf nun Jacques ein.
    »Aha. Na endlich. Bitte, Jacques, klären Sie uns auf.«
    »Nach Piaton gibt es drei Arten von Tischen: einen universellen, den Gott gemacht hat, an zweiter Stelle einen partikularen, einzelnen, den etwa ein Tischler herstellt, und schließlich den nachgebildeten, den scheinbaren Tisch, zum Beispiel auf einem Gemälde.«
    »Oder im Text einer Tragödie«, fuhr Marian fort. »Genau dieser interessiert uns hier. Sokrates argumentiert etwa folgendermaßen: Gott hat das Wesen des Tisches erschaffen. Es ist einmalig und absolut. Jeder Holztisch kommt diesem Ideal nahe, ist aber letztendlich nur ein Abklatsch, eine unvollkommene Nachahmung, wie alles in der Welt der Erscheinungen. Dies ist jedoch verzeihlich, da die Bemühung der Nachahmung immerhin auf das absolute Original gerichtet ist. Doch was tut der Dichter oder Künstler? Welchen Rang hat sein Tisch? Gar keinen. Er ist nur ein Nachbildner, noch weiter von jeglichem Anspruch auf Wahrheit entfernt als der Handwerker. Von Homer ab, so sagt Sokrates, seien alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildern, welche die Wahrheit überhaupt nicht berühren. Dennoch wird nicht alle Dichtung verdammt, sondern nur die darstellende, die nachahmende, mimetische. Was meint er damit?«
    Niemand antwortete. Marian wurde sichtlich ungeduldig. »Begriffe werden oft klar, wenn man ihr Gegenteil betrachtet. Was ist das Gegenteil von Mimesis?«
    »Diegese«, sagte eine weibliche Stimme. Ich drehte mich herum. Parisa hatte gesprochen.
    »Und was ist Diegese?«
    »Erzählung im weitesten Sinne. Berichtendes Erzählen im Gegensatz zum Nachahmenden.«
    »Sehr schön, Parisa. Für Sokrates ist die Unterscheidung also in der Stimme des Autors zu finden«, erklärte Marian, sichtlich irritiert, dass sie ihre Zeit mit diesem Anfängerwissen verschwenden musste. »Alles hängt für ihn offenbar von dieser Frage ab: Wer spricht? Solange ein Autor diegetisch erzählt, solange er berichtet, wie die unterschiedlichen Figuren gesprochen und gehandelt haben, ist es für ihn in Ordnung. Doch sobald ein Dichter als eine seiner Figuren auftritt, mit verstellter Stimme spricht, wird es problematisch. Aus einer Vielzahl von Gründen, die Sie bitte selbst nachlesen, wird diese nachahmende, mimetische Vortragsweise als unakzeptabel verworfen und im zehnten Buch als schädlich gebrandmarkt.«
    Marian unterbrach sich und schaute uns einen nach dem anderen an.
    »Und?«, fragte sie dann.
    Jacques grinste verlegen. Julie wurde rot. Mark nestelte an seinem Hemdkragen herum, konnte aber die Pointe zu dem ganzen Problem dort offenbar auch nicht finden.
    »Denken Sie doch mal nach!« Marians Augen blitzten jetzt. »Wer spricht? Es geht immer wieder nur um diese Frage. Es ist DIE Frage schlechthin. Wer spricht?«
    Tom Brendan brach plötzlich das Schweigen.
    »Oh, mein Gott«, rief er kopfschüttelnd aus, »Piaton natürlich. Piaton, der so tut, als sei er Sokrates und Adeimantos, und Glaukon und Kephalos und wer sonst noch alles.«
    Mark lächelte gequält. Jacques nickte Tom anerkennend zu. Marian sprach weiter.
    »Ausgezeichnet, Tom. Sokrates hat niemals eine Zeile geschrieben. Alles, was wir über ihn wissen, wissen wir durch Piaton. Er ahmt Sokrates' Stimme nach. Die ganze Politeia ist im Stil doppelter Mimesis geschrieben. Der Text tut genau das, was er verdammt. Oder, anders gesagt, er vollzieht das Gegenteil von dem, was er behauptet. Seine Grammatik und seine Rhetorik, das, was er sagt und wie er es sagt, stehen in einem unauflösbaren Widerspruch.«
    Einen Augenblick lang war es völlig still im Raum. Marian blickte von einem zum andern.
    »Vielleicht war Piaton ein Ironiker?«, scherzte Jacques.
    »Darüber nachzudenken, überlasse ich Ihnen«, erwiderte Marian kühl. »Weiß übrigens jemand, wie diese rhetorische Figur

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