Der gestohlene Abend
Körbchen mit dem gewiss sündhaft teueren Label vor meinen Augen hin und her baumeln.
»Und Sie, Officer? Sagen Sie mal, wann haben Sie Dienstschluss?«
Kapitel 52
»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte sie.
»Mit meinem Reisebüro in Deutschland. Ich wollte meinen Rückflug bestätigen. Es gibt ein Problem mit meiner Reservierung.«
»Was für ein Problem?«
»Ich muss einen Tag früher oder vier Tage später fliegen.«
»Vier Tage? Da verpasst du eine ganze Woche.«
»Ja. Das heißt, ich habe keine Wahl.«
»Schön«, sagte sie. »Dann komme ich mit dir. Ich war noch nie in Amsterdam.«
Ich lächelte sie an. Gleich würde sie bemerken, dass ich unehrlich war. Aber sie drückte mir einfach einen Kuss auf die Stirn. Mir fiel keine zweite Lüge ein, mit der ich die erste wieder aus der Welt hätte schaffen können. Ich empfand ihren spontanen Wunsch, mit mir nach Amsterdam zu fahren, als zudringlich. Und zugleich beschämte mich dieses Gefühl. Ich wollte den Dämon, den David in mir heraufbeschworen hatte, im Geheimen bannen. Ich wollte nicht, dass sie davon erfuhr. Aber das war unmöglich. Ich hatte gar keine Wahl. Ich würde ihr sagen müssen, was ich vorhatte. Aber wann? Jetzt gleich? Hier in Paris?
Es regnete, und wir verbrachten den Vormittag mit Lesen. Ich hatte mir eines ihrer Bücher geliehen, das sie für die Ferien mitgenommen hatte. Es waren Aufsätze von Soziologen. Die Texte selbst interessierten mich gar nicht so sehr. Was mich faszinierte, waren Janines Unterstreichungen.
»Was hältst du von der Geschichte vom Schuhladen?«, fragte ich sie.
»Welche Geschichte?«
»Du hast sie ziemlich dick unterstrichen. Hier. Ein Mann geht die Straße entlang und sieht ein Schild mit der Aufschrift Schuhe zu verkaufen. Als er den Laden betritt und ein paar Modelle sehen will, schaut ihn der Verkäufer verständnislos an und sagt, er habe keine Schuhe. Er verkaufe nur Schilder.«
»Ach, das meinst du. Das ist von Kierkegaard.«
»Und was will er damit sagen?«
»Ist doch logisch. Dass Inhalte kontextabhängig sind. Hätte der Mann gewusst, dass er nicht vor einem Schuhladen, sondern vor einem Schilderladen stand, dann hätte er das Schild im Schaufenster richtig interpretiert. Aber diese Theorie stimmt heute leider auch nicht mehr. Kontexte sind ja auch nicht objektiv. Sie sind ebenso unbestimmt und fließend wie die Inhalte. Die ganze Unterscheidung ist neunzehntes Jahrhundert. Sie ist zusammengebrochen.«
»So. Wie das?«
»Es gibt tausend Möglichkeiten. Vielleicht ist der Inhaber des Schilderladens ein Spion, und das Schild Schuhe zu verkaufen hängt nur als Code für irgendwelche geheimdienstlichen Operationen im Schaufenster. Oder da wird gerade ein Film gedreht. Es ist gar kein Laden, sondern eine Kulisse. Was weiß ich? Die Wirklichkeit hinter den Zeichen ist nun mal nicht zugänglich. Es gab und gibt dort niemals Schuhe. Nur Zeichen. Wir müssen wieder barfuß gehen, wie vor dem Sündenfall.«
»Also grundsätzlich skeptisch. Misstrauisch.«
»Nein. Ironisch.«
»Ist das nicht traurig?«
»Das alte Schema ist nun mal kaputt. Es hat nicht funktioniert. Niemand glaubt mehr an irgendetwas. Die Leute heiraten und schließen nebenher Verträge, weil sie damit rechnen, dass sie sich scheiden lassen werden. Sie glauben an Wahlversprechen, von denen sie erwarten, dass es Lügen sind. Das ist der Status quo. Ein Leben im Zustand des Als-ob.«
»Klingt furchtbar.«
»Es ist ein Übergang.«
»Und was kommt danach?«
»Ein neues Denken. Die Menschen vor uns haben an Metaphysik geglaubt, an das Jenseits, an das Unsichtbare. Wir haben es mit der Realität versucht, mit den Fakten, mit Ursache und Wirkung, mit dem Sichtbaren. Aber das hat auch nicht funktioniert.«
»Und warum nicht?«
»Weil es keine Fakten gibt. Oder anders gesagt: Man kann sie nicht erfassen, ohne sie zu verändern.«
»Du sitzt hier vor mir und trinkst Cappuccino.«
»Geschenkt, Matthew. Willst du hören, wie die Fabel von Kierkegaard heute lauten müsste?«
»Ja. Gern.«
»Vor ein paar Jahren wurden auf den Philippinen im tiefsten Dschungel ein paar Angehörige eines Eingeborenenstammes entdeckt, die seit achthundert Jahren ohne jeden Kontakt zur Außenwelt gelebt haben. Um sie in ihrer Natürlichkeit zu belassen, beschloss man, sie nicht dem Zugriff von Touristen und Ethnologen auszusetzen. Die Initiative ging von sogenannten progressiven Anthropologen aus, die verhindern wollten, dass diese Menschen unter den
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