Der gestohlene Abend
lächelnd auf mich zu, während ich einen Augenblick brauchte, um ihr altes und neues Gesicht irgendwie in Verbindung zu bringen. Je näher sie kam, desto aufregender fand ich, was ich sah. Sie umarmte mich, fuhr mit einer Hand durch mein Haar und küsste mich. Arm in Arm durchquerten wir die Bahnhofshalle. Ich musste sie immer wieder anschauen. Es war Janine, aber eigentlich war es ein ganz anderes Mädchen. Mit den kurzen Haaren sah sie aus wie eine Pariserin. Sie trug schwarze Jeans, einen grauen Pulli, darüber einen taillierten, dunkelgrünen Trenchcoat sowie einen kleinen Hut, der ihr zwei Jahre stahl und ihr etwas von einem Schulmädchen gab.
Sie strahlte mich an. Wir sprachen kaum, fuhren mit der Metro bis St. Sulpice und gingen dann die kurze Strecke bis zu ihrer Wohnung in der Rue du Cherche-Midi. Janine tippte auf eine Tastatur, die in den gelben Sandstein neben dem Hauseingang eingelassen war, und die Verrieglung öffnete sich mit einem leisen Klicken.
»14C13«, flüsterte sie und schob mich in den Hausflur. »Falls du hier jemals allein stehen solltest, was ich nicht glaube.«
Eine enge Holztreppe brachte uns in den dritten Stock. Die Wohnung war nicht sehr groß. Ein schmaler Flur, in dem man sich kaum umdrehen konnte, verband ein winziges Bad mit einer ebensolchen Küche. Dazwischen führte ein Durchgang in zwei Wohnräume, die durch eine Tür miteinander verbunden waren. Das Ganze lag zu einem engen Hof hin, ohne Lichteinfall oder Grün. Hinter den Gardinen konnte man schemenhaft die Fenster der Nachbarwohnungen erkennen. Als ich aus der Dusche kam, erfüllte Kaffeeduft die Wohnung. Ein Teller mit Croissants stand auf dem Couchtisch, Janine saß mit hochgezogenen Beinen auf der Couch und schaute mich erwartungsvoll an. Ich trug den Bademantel ihres Vaters. Zum Frühstück kam es nicht mehr.
Als wir wieder aus dem Schlafzimmer kamen, war es halb eins. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, und ein schmaler Streifen Sonnenlicht fiel ins Wohnzimmer. W r ir zogen uns an und machten uns auf die Suche nach einem Restaurant, um zu Mittag zu essen. Alles war wie damals, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an ihrem Gesicht, ihren Augen, ihren Lippen, die ich küssen durfte, sooft ich nur wollte. Nach dem Essen spazierten wir durch den Jardin du Luxembourg, kehrten jedoch schon bald in die Wohnung zurück und verließen das Bett an diesem Tag nicht mehr.
Kapitel 49
»Woran denkst du?«
Ich hatte nicht bemerkt, dass sie wach war. Ich lag schon seit geraumer Zeit mit offenen Augen da und beobachtete, wie die dunklen Konturen des Zimmers mit dem ersten Frühlicht allmählich Gestalt annahmen.
»An nichts«, sagte ich.
Aber ich hatte an David gedacht, an unseren Ausflug nachSan Luis Obispo und die Nacht im Motel. Sie kuschelte sich an mich. Wenn sie ausatmete, spürte ich es auf meinem Rücken. Ein leichtes Rauschen drang durch die Fensterscheiben. Regentropfen schlugen auf das Blech der Fensterbank. ^
»Wie geht es eigentlich Marian?« r,
»Warum fragst du?«
»Betreut sie jetzt das Archiv? Das muss doch schwierig für sie sein, oder?«
»Jeffrey Holcomb kümmert sich im Moment darum.« Sie vergrub ihren Kopf tiefer im Kopfkissen. Ich hing wieder meinen Gedanken nach. David war hier. Die ganze Zeit. Ich wollte ihn los sein. Janine richtete sich auf und schaute mich an.
»Du denkst dauernd an ihn, nicht wahr?«, fragte sie. »Ja. Du etwa nicht?«
»Ja. Natürlich. Aber ich weiß auch, dass ich damit aufhören muss.«
Sie schaute über mich hinweg auf die nassen Fensterscheiben. Eine leichte Gänsehaut breitete sich auf ihrem Oberkörper aus. Ich zog die Decke hoch und legte sie ihr um die Schultern.
»Vielleicht sollten wir über ihn reden?«
»Worüber?«, sagte sie matt. »Ich habe die letzten Wochen ständig an ihn gedacht. Er soll mich endlich in Ruhe lassen.«
Eine Weile war nur das Rauschen des Regens zu hören.»
»Hat der Journalist dir auch diesen Brief gezeigt?«
»Ja. Offenbar hat er halb Hillcrest danach gefragt.«7
»Und? Was hast du ihm gesagt?«
»Dass er sich zum Teufel scheren soll.«
Sie kroch unter die Decke und zog die Beine an. Nach eine» Weile drehte sie sich wieder zu mir und schaute mich an.
»Wie soll das mit uns weitergehen, Matthew? Werden wir jeden Morgen aufwachen und über David reden?«
Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Ich hörte Wasser rauschen. Ich wartete darauf, dass sie zurückkam. Dann hörte ich sie
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