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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Blicken der modernen Menschen wie Mumien zerfallen. Man versetzte das Gebiet in einen Dornröschenschlaf. Niemand durfte hinein, niemand heraus. Keine Wissenschaft sollte diese Menschen jemals erforschen. Und das wurde auch noch so hingestellt, als gehe es darum, diese Menschen zu retten. Dabei ging es um etwas ganz anderes.«
    »Und worum ging es?«
    »Um die Rettung der Wissenschaft, der Ethnologie, der Anthropologie. Es geht nur noch um die Rettung des Glaubens an eine objektive Wissenschaft. Die in ihrem Urzustand eingefrorenen Eingeborenen sind das Alibi für eine Wirklichkeit, die simuliert ist. Es gibt keine Wirklichkeit. Nur Zeichen davon, die Vorstellungen, die Bilder, die wir uns machen. Die Zeichen haben die Sache immer schon aufgefressen oder eingefroren, wenn du so willst. Aber wie kommst du darauf?«
    »Bei Marian war davon auch schon mal die Rede. Kennst du sie eigentlich gut?« »Es geht so.«
    »Und was hältst du von ihr?« »Ich finde sie großartig. Warum?« »Nur so. Ich auch. Aber warum wird sie so angefeindet?« »Weil sie eine Frau ist.«
    »Das habe ich vor ein paar Wochen schon mal gehört.« »Marians verschleppte Berufung ist reiner Sexismus. Sie hat einen Fehler gemacht. Ich an ihrer Stelle wäre erst gekommen, nachdem der Hickhack in Hillcrest abgeschlossen ist. Dann wäre das alles schneller gegangen. Jetzt hängt sie in der Luft. Wenn ihre Feinde sich durchsetzen, muss sie weiterziehen, ohne Stelle.«
    »Glaubst du, dass so etwas passieren könnte?« »Hey, man weiß nie, wie die Dinge laufen. Marian legt sich mit mächtigen Gegnern an. John Barstow würde Marian sofort absägen, wenn er könnte. Er versucht es ja mit allen Mitteln.«
    So direkt hatte ich das noch von niemandem gehört. »Woher willst du das wissen?« Sie zuckte mit den Schultern.
    »Ich weiß es eben. Eine Universität ist eine Schlangengrube. Es geht nur um Politik.«
    Sie trank einen Schluck von ihrem Cappuccino.
    »Hast du eigentlich bei ihr studiert?«
    »Nein.«
    »Aber du hast ihre Bücher gelesen?«
    Sie antwortete nicht und warf mir einen missmutigen Blick zu. Sie spürte, dass ich Antworten auf Fragen suchte, die ich nicht direkt stellen wollte. Aber verheimlichte sie mir nicht auch etwas? Warum hatte ich die ganze Zeit dieses Gefühl?
    Als wir am Nachmittag im Marais-Viertel in eine Kunstgalerie gerieten, wo die Art von Kunst ausgestellt war, für die mein Bruder so schwärmte, leere Leinwände, verbogene Drähte und sonstiges für mich unverständliches Zeug, quittierte sie meine sarkastischen Bemerkungen mit Schweigen. Ich verkniff mir weitere Kommentare. Wir taten, was wohl alle Verliebte tun: Wir schlafwandelten durch das verminte Gelände unserer Gegensätze.
    Ich fand einfach keine Gelegenheit, ihr zu sagen, was ich vorhatte. Ich würde sie mitnehmen. Erst unterwegs würde ich ihr alles sagen. Dann wäre sie bei mir, und wir würden uns diesen gestohlenen Abend gemeinsam vornehmen.

Kapitel 53
    Am nächsten Morgen bestiegen wir am Gare du Nord den Zug nach Amsterdam. Als wir den Großraum Paris hinter uns gelassen hatten, wurde es allmählich hell. Schon bald säumten die leeren Felder der Picardie die Gleise. Das Wetter war gut, bis wir die belgische Grenze passierten, wo ein feiner Nieselregen einsetzte, der die nächsten Tage nicht mehr nachlassen würde. Eine Stadt namens Bergen wurde gerade angekündigt. Brüssel lag nur noch eine gute halbe Stunde entfernt. Ich konnte nicht länger warten.
    »Janine«, sagte ich.
    Sie sah von ihrem Buch auf.
    »Ja?«
    »Ich muss dir etwas sagen.«
    Sie runzelte die Stirn. Dann lächelte sie.
    »Aha. So förmlich?«
    »Ich werde in Brüssel aussteigen, Janine. Ich habe dich angelogen. Mein Flug geht nicht morgen, sondern wie geplant erst am Sonntagabend.«
    Sie starrte mich an. Dann ließ sie ihr Buch sinken.
    »Was ... was soll das?«, sagte sie. Dann errötete sie.
    »Ich habe merkwürdige Hinweise gefunden«, fuhr ich fort. Meine Stimme zitterte ein wenig. War es die Scham über meine Unehrlichkeit? Oder über ihre? Ich hatte sie völlig überrumpelt. Aber ich war nicht der Einzige hier, der nicht ganz ehrlich war. Wie zur Bestätigung verdunkelte sich jetzt ihr Blick, wurden ihre Augen kalt und der Zug um ihren Mund düster.
    »Ich habe Hinweise gefunden«, begann ich wieder. »David muss geglaubt haben, dass jemand aus De Vanders Familie eine ...«
    Das Wort »Nazivergangenheit«, das ich hatte benutzen wollen, kam mir nicht über die Lippen. »... eine

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