Der gestohlene Abend
problematische Vergangenheit hat. Ich habe keine Ahnung, ob etwas an der Sache dran ist. Aber ich will das überprüfen. Und ich würde gern wissen, ob du etwas darüber weißt?«
Ich wollte noch mehr sagen, ihr den ganzen Wust meiner wirren Überlegungen und Spekulationen darlegen, ihr erklären, wie grässlich ich diese Situation fand, aus der ich jedoch keinen anderen Ausweg als diesen gefunden hatte.
Sie sagte kein Wort, klappte ihr Buch zu, nahm ihre Handtasche, erhob sich und verließ das Abteil. Sie ging ein paar Schritte, blieb jedoch nicht weit entfernt von unserem Abteil auf dem Gang stehen, zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche und begann zu rauchen. Was bedeutete das? Dass ich recht hatte. Ich stand auf und öffnete die Abteiltür.
»Janine«, sagte ich leise, »komm bitte wieder her! Und bitte antworte mir.«
Sie drehte sich um. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie war aschfahl. Aber ihre Stimme war fest, obwohl sie leise sprach.
»Hallo David«, sagte sie.
Ich schaute sie nur an.
»Fahren wir also nach Brüssel. Du tust, was du tun musst. Ich werde dir nicht im Weg sein.«
Sie drehte sich wieder zum Fenster und zog an ihrer Zigarette. Ihre Hand zitterte.
Sie blieb dort draußen stehen, bis wir Brüssel erreichten. Als wir am Zentralbahnhof auf die Straße traten, ging sie ohne ein Wort zu sagen auf das erstbeste Hotel auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu und kümmerte sich überhaupt nicht darum, ob ich ihr folgte oder nicht. An der Rezeption verlangte sie ein Einzelzimmer, nahm ihren Schlüssel entgegen und ließ mich mit der Bemerkung an der Rezeption stehen, sie werde sich bei mir melden, wenn sie das Bedürfnis hätte, mich zu sehen.
Der Rezeptionist fragte mich, ob ich auch ein Zimmer wolle? Ich nickte und gab ihm meinen Pass. Ich hatte sie hintergangen. Zugegeben. Aber sie? Sagte sie mir vielleicht die Wahrheit? Ich fragte nach ihrer Zimmernummer. Der Mann schaute mich amüsiert an.
»308, Monsieur«, sagte er und stellte mir ungefragt ein Telefon hin. Aber sie antwortete nicht.
»Gibt es hier irgendwo eine Bibliothek?«, fragte ich.
»Einen Buchladen?«
»Nein. Eine Bibliothek.«
»Hier schräg gegenüber ist die Königliche Bibliothek. Aber sie ist sehr groß, mein Herr.«
Er gab mir meinen Schlüssel.
»Kann ich meine Tasche hierlassen?«, fragte ich. »Ich beziehe das Zimmer später.«
»Sicher.«
»Und könnten Sie mir den Weg zu dieser Bibliothek erklären?«
Er ging zur Tür und deutete auf ein imposantes Gebäude direkt hinter dem Bahnhof.
»Dort ist der Eingang. In zwei Minuten sind Sie da.«
Ich überquerte die stark befahrene Straße, stieg die Treppe zu dem modernistischen Bau hinauf und betrat die Eingangshalle. Ich gab meine Jacke an der Garderobe ab und ging eine breite Treppe hinauf, die zum eigentlichen Bibliothekseingang führte. In einem Glaskasten neben einem Drehkreuz saß eine ältere Frau. Sie empfahl mir einen Wochenausweis. Eine Buchausleihe war damit zwar nicht möglich, aber das hatte ich ohnehin nicht vor. Sie kopierte meinen Reisepass, übertrug meine Daten auf eine gelbe Karte, faltete sie zusammen und steckte sie in eine Plastikhülle. Die Benutzernummer sei zugleich der Zugangscode für den Computerkatalog, erklärte sie mir. Bei der ersten Benutzung müsse ich ein Passwort aus mindestens fünf Buchstaben eingeben. Ich musste mich zwingen, ihr zuzuhören. Ich bereute, überhaupt hergekommen zu sein. Ich musste mit Janine reden, sobald ich hier fertig war. So konnte es doch nicht zwischen uns bleiben.
Ich nahm an einem der Computer Platz, gab meine Nummer ein und blickte ein paar Sekunden auf das umrandete Feld, unter dem in kursiven Buchstaben ein Eingabebefehl aufblinkte: INTRODUIRE VOTRE MOT DE PASSE. Mir fiel nichts Besseres ein, also schrieb ich DAVID, drückte auf ENVOYER und befand mich auf der Suchmaske. Ich gab den Suchbegriff Soir Vole ein und wartete. Die Maske auf dem Bildschirm wechselte und zeigte eine weiße Fläche. Am unteren Rand stand: Resultat de votre recherche: o.
Ich würde es mit Le Soir versuchen müssen. Aber welche Jahrgänge? Ich gab Le Soir ein und wurde sofort fündig. Der Bildschirm füllte sich mit langen Zahlenreihen, bei denen es sich nur um Jahrgänge und Bestandshinweise handeln konnte. Nach langer Suche in den eng gedruckten Ziffernfolgen fiel mir eine Eintragung auf. Da stand ein Sternchen und in Klammern daneben endlich der gesuchte Titel: Le Soir
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