Der gestohlene Abend
zu entlarven, nicht ihnen aufzusitzen. Außerdem war er viel zu jung, um damals irgendeine Rolle gespielt zu haben. Was war das überhaupt für eine Zeitschrift? Die Hefte des Imaginären. Durchaus ein passender Titel für ein Journal über Comics, aber wohl kein Forum für heikle Themen wie dieses. Ich schaute mir den Artikel genauer an. Er war alles andere als seriös. Nirgends gab es Belege oder Fußnoten. Keinerlei Quellenangaben und auch keine Literaturliste. Der Autor versuchte nicht einmal, sich den Anstrich von wissenschaftlicher Seriosität zu geben. Formulierungen wie man weiß und es ist hinreichend bekannt dominierten.
War David in Brüssel auf dubiose Zusammenhänge dieser Art gestoßen und hatte voreilige Schlüsse gezogen? Rührte daher das Zerwürfnis mit Marian? Hatte David in seinem Eifer vielleicht etwas herbeifantasiert, gestützt auf obskure Quellen wie diese hier und auf fremdsprachige Artikel, die er nicht einmal richtig hatte lesen können? Je länger ich darüber nachdachte, desto plausibler schien mir diese Erklärung. De Vander war der Letzte, der eine Angriffsfläche für derartige Verdachtsmomente bot. Hatte ich nicht irgendwo gelesen, dass er im Widerstand aktiv gewesen war und sogar Juden versteckt und gerettet hatte?
Ich starrte auf die Karikatur am Ende des Artikels. Tim und Struppi bestiegen eine schwarz-weiß-rote Mondrakete. Der Mond am Himmel über ihnen, zu dem sie aufbrachen, trug einen Scheitel und ein Hitler-Bärtchen.
Irritiert schob ich das Heft von mir weg.
Kapitel 51
Ich gab den Code ein, ging die Treppe hinauf und betrat die Wohnung. Wie ausgemacht, war ich als Erster zurückgekommen und hatte den Schlüssel. Ich war die ganze Strecke zu Fuß gegangen, in der Hoffnung, Paris würde meine misstrauischen Gedanken zerstreuen. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil. Je länger ich nachdachte, desto mehr Einzelheiten und Ungereimtheiten der letzten Monate begannen sich zu einer Geschichte zusammenzufügen, die sich vor meinen Augen abgespielt haben musste und von der ich keine Ahnung gehabt hatte. Es stand außer Frage: Ich würde nach Brüssel fahren und diesen Soir Vole nach Hinweisen durchforsten, genau wie David es vermutlich auch getan hatte. Oder war das nur der erste Schritt, in seine Paranoia einzusteigen? War sein Unfall vielleicht gar kein Unfall gewesen? Irgendeine Schweinerei hinter den Kulissen? Moment, sagte ich mir leise vor. Ganz langsam. Aber die nächste Frage folgte sofort. Was hatte Janine von der Sache gewusst?
Mein Gespräch mit Marian nach dem Besuch in Hearst Castle kam mir in Erinnerung. Ihre Reaktion, als ich den flämischen Artikel erwähnt hatte. Die antisemitische Schmiererei. Ihr Gesichtsausdruck! Dieses Blinzeln! Konnte es für Marian überhaupt etwas Gefährlicheres geben, als ein solches Gerücht: dass De Vander eine wie auch immer geartete Nazivergangenheit hatte? Schon allein ein solcher Verdacht barg die Gefahr von Rufmord, vor allem jetzt, während sie zur Berufung anstand und die Gegner ihrer Arbeit jede Gelegenheit nutzen würden, um ihr zu schaden. Oder hatte David wirklich etwas gefunden, etwas derart Unfassbares? Wenn diese Vermutung keine Wahnvorstellung eines überspannten Studenten gewesen war, dann musste Marian befürchten, ich sei eingeweiht.
Es klingelte. Janines von der Winterluft kühle Wange streifte mein Gesicht, ich spürte ihre Lippen, die Feuchtigkeit ihrer regennassen Haare.
»Blinis, Kaviar, Creme fraiche«, rief sie gut gelaunt und stellte Einkaufstüten auf den Küchentisch. »Und eine Flasche Ruineart. Ich liebe Frankreich. Wie war's in der Bibliothek?«
Dann zog sie ihren dunkelgrünen Trenchcoat aus und hielt ihn mir hin.
Ich war sprachlos.
»Wow«, entfuhr es mir. »Wahnsinn.«
Sie trug ein neues Kleid und sah umwerfend darin aus. Sie lachte, freute sich, drehte sich einmal um die eigene Achse. Dann hatte sie plötzlich, ich weiß nicht, woher, ein Päckchen in der Hand.
»Für dich.«
Noch bevor ich es auspacken konnte, hatte sie mein Hemd aufgeknöpft und es mir ausgezogen, um mir dafür den schönsten schwarzen Kaschmirpullover überzustreifen, den ich jemals besessen habe. Lange trug ich das gute Stück allerdings nicht. Und ich vergaß ohnehin erst einmal alles, als plötzlich ihr Kleid herabfiel. Ich liebte Frankreich jetzt auch, vor allem seine Dessous-Läden.
»Dafür braucht man aber einen Waffenschein.«
»Ich habe einen«, hauchte sie. »Schau.« Sie öffnete den BH und ließ die
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