Der gestohlene Abend
rufen: »Hey, großer Schwimmer, kommst du ins Wasser?«
Als ich das Bad betrat, saß sie schon in der Wanne. Sie hielt mir ihren rechten Fuß hin, ließ den Kopf ein wenig nach hinten fallen und bat um eine Massage.
»Lass uns einfach nicht mehr davon reden«, sagte sie mit geschlossenen Augen.
Kapitel 50
■»
Wir verbrachten den Vormittag im Louvre, aßen in einer Brasserie zu Mittag und besuchten am Nachmittag das Musee d'Orsay. Ich überließ mich ihrer Führung. Sie kannte die Stadt viel besser als ich. Da sie die Aussicht vom Dachcafe des Centre Pompidou mochte, gingen wir auch dort noch hin und schauten uns eine Fotografieausstellung an.
Die Rolltreppe nach unten führte an der Bibliothek vorbei. Janine hatte Lust, sie sich anzuschauen. Wir liefen zwischen den Regalen umher und blieben bei den Kunst- und Fotobänden hängen. Von einem Band über David Hockney konnte sie sich gar nicht wieder losreißen. Ich ging zum Katalog und öffnete die Schublade mit dem Buchstaben S. Ein Soir Vole war nicht gelistet. Dafür wurde ich bei C fündig. Die Cahiers de l'Imaginaire mussten hier irgendwo ausliegen. Ich merkte mir die Signatur und suchte das entsprechende Regal. Janine war noch immer in Hockney versunken. Drei Regale weiter fand ich die Zeitschrift, leider nur das aktuelle Heft. Die älteren Jahrgänge konnte man jedoch bestellen. Ich füllte einen Leihschein aus und deponierte ihn in der Bestellablage. Für heute war es zu spät. Der Band würde erst morgen aus dem Magazin kommen.
Janine war wieder zu mir gestoßen und musterte neugierig den Bestellschein.
»Sogar jetzt bist du fleißig?«, sagte sie spöttisch.
»Zufall«, sagte ich. »Den Aufsatz suche ich schon länger.«
»Aha. Und worüber?«
»Comics. Tim und Struppi.«
Sie runzelte die Stirn.
»Nie gehört. Ich wusste gar nicht, dass du Comics liest?«
Glücklicherweise fragte sie nicht weiter nach, sondern hakte sich bei mir unter.
»Dann musst du aber morgen allein wiederkommen. Gehen wir?«
Warum log ich sie an? Warum sagte ich ihr nicht, aus welchem Grund ich den Artikel lesen wollte? Natürlich würde ich allein wiederkommen. Auf dem Heimweg überlegte ich sogar, ob ich in die Bibliotheque Nationale fahren sollte, um dort zu schauen, ob in Frankreich ein Soir Vole existierte. Doch das erwies sich als unnötig. Denn als ich am nächsten Morgen den Artikel in den Cahiers de l'Imaginaire fotokopiert und gelesen hatte, war mir klar, dass ich ganz woanders suchen musste, wenn ich diese Spur weiterverfolgen wollte.
Les Cahiers de Flmaginaire war gar keine französische Zeitschrift. Sie erschien in Brüssel. Der Aufsatz, auf den ich gestoßen war, richtete sich an ein Publikum, das sich für die belgische Innenpolitik der Dreißigerjahre interessierte. Keiner der Namen, die dort auftauchten, sagte mir etwas. Raymond de Becker, Leon Degrelle, Paul Jamin. Ein Name allerdings fiel mir sofort auf. Hendrik De Vander. Wer war denn das? Ein Verwandter von Jacques De Vander? Der Autor schien die Kenntnis der Biografien dieser Personen vorauszusetzen und bemühte sich nachzuweisen, in welchem Verhältnis Herge, der Zeichner von Tim und Struppi, zu ihnen gestanden hatte. Die unterschiedlichen Personen dienten dabei als Messlatte für den Grad von Herges Nähe zum rechtsradikalen, faschistischen Spektrum der Dreißigerjahre. Der Schöpfer von Tim und Struppi hatte offenbar eine erzreaktionäre, rassistische Grundeinstellung gehabt. Schon vor dem Krieg hatte er dem rechtsradikalen Lager angehört. Die ersten großen Schritte seiner Karriere machte er im von Hitler besetzten Belgien. Der Aufsatz analysierte Herges frühe zeichnerische Produktion. Sie war vornehmlich in der größten Belgischen Tageszeitung Le Soir erschienen. Das Blatt war nach dem deutschen Überfall auf Belgien gleichgeschaltet worden und hatte von 1940 bis zur Befreiung 1944 als wichtiges Propagandaorgan der Nationalsozialisten gedient. Die Bevölkerung nannte die Zeitung daher nur: Le Soir Vole.
Der gestohlene Abend? Hendrik De Vander? Ich versuchte diese Informationen sinnvoll miteinander zu verbinden. David war letzten Sommer in Brüssel gewesen. Er hatte Material über De Vander gesucht. Für Marian. Hatte er etwas gefunden, das De Vander mit dieser Zeit in Verbindung brachte? Der Gedanke war so absurd, dass ich ihn sofort beiseite schob. De Vander war einer der einflussreichsten Intellektuellen der Gegenwart. Nicht nur das. Sein Lebenswerk bestand darin,
Ideologien und Mythen
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