Der gestohlene Traum
Knüppelchen wird auch dann, wenn er die Bühne verlassen hat, ständig daran denken, dass jemand, den er liebt und dem er vertraut, ihn betrügt. Wie wird er mit dieser Last leben können?
Aus irgendeinem Grund dachte Nastja nicht daran, dass auch sie ab jetzt mit derselben Last würde leben müssen . . .
* * *
Oberst Gordejew war kaum noch wiederzuerkennen. Der energische, agile Mann, der beim Nachdenken gern mit raschen Schritten in seinem Büro auf und ab ging, wirkte jetzt wie versteinert, er saß bewegungslos hinter seinem Schreibtisch, den Kopf in den Händen. Es schien, als würden so unbändige Emotionen in ihm kochen, dass er befürchten musste, beim ersten unvorsichtigen Wort die Beherrschung zu verlieren, worauf alles in ihm Aufgestaute hemmungslos nach außen schießen würde. Zum ersten Mal, seit Nastja in der Petrowka arbeitete, hatte sie fast Angst vor ihrem Chef.
»Wie steht es im Fall Jeremina?«, fragte Viktor Alexejewitsch. Seine Stimme klang matt und leidenschaftslos. Sie drückte nicht einmal Neugier aus.
»Schlecht, Viktor Alexejewitsch«, gestand Nastja. »Ich bin in einer Sackgasse und komme keinen einzigen Schritt weiter.«
»Soso«, murmelte Knüppelchen und sah dabei über Nastjas Kopf hinweg. Es schien, als würde er ihr gar nicht zuhören, sondern an etwas völlig anderes denken.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte er plötzlich. »Oder kommst du einstweilen allein zurecht?«
»Ich werde sie brauchen, wenn ich neue Versionen habe. Bis jetzt habe ich herausgefunden, dass . . .«
»Schon gut«, unterbrach Gordejew. »Ich weiß, dass du ordentlich arbeitest. Kommst du mit Olschanskij zurecht?«
»Es geht«, erwiderte Nastja kurz und trocken, aber sie fühlte, wie Enttäuschung in ihr aufstieg.
»Soso«, sagte der Oberst wieder. Nastja hatte das Gefühl, dass er ihr nur Fragen stellte, um die Rolle des Chefs zu spielen. Ihre Antworten interessierten ihn gar nicht, er dachte an etwas anderes.
»Denkst du daran, dass wir zum ersten Dezember einen Praktikanten von der Moskauer Polizeihochschule bekommen?«
»Ja, ich weiß.«
»Und warum unternimmst du nichts, wenn du es weißt? Es sind nur noch zehn Tage bis dahin. Worauf wartest du?«
»Ich werde gleich heute anrufen und einen Termin vereinbaren. Machen Sie sich keine Sorgen, Viktor Alexejewitsch.«
Nastja bemühte sich, ruhig und gelassen zu sprechen, aber am liebsten wäre sie Hals über Kopf davongestürzt, um sich heulend in ihrem Büro einzuschließen. Warum sprach Gordejew so mit ihr? Was hatte sie sich zuschulden kommen lassen? Man konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie in all den Jahren, seit sie hier arbeitete, auch nur ein einziges Mal etwas vergessen hätte. Es gab vieles, das sie nicht konnte, sie beherrschte weder den Umgang mit Feuerwaffen noch den Zweikampf, sie wusste nicht, was man tun musste, um einen Verfolger zu entdecken und abzuschütteln, sie war schlecht im Laufen, aber sie hatte ein phänomenales Gedächtnis. Anastasija Kamenskaja vergaß nie etwas.
»Schieb es nicht auf die lange Bank«, fuhr Gordejew währenddessen fort. »Suche dir einen Praktikanten für dich selbst aus und ziehe ihn dann zur Mitarbeit am Fall Jeremina heran. Allem Anschein nach wird der Fall in zehn Tagen ja noch nicht aufgeklärt sein. Er soll dir helfen und gleichzeitig von dir lernen. Wenn sich herausstellt, dass du den Richtigen ausgesucht hast, übernehmen wir ihn als festen Mitarbeiter, da uns ohnehin Leute fehlen. Jetzt etwas anderes. Im Frühjahr war eine Delegation der italienischen Kripo bei uns. Im Dezember ist ein Gegenbesuch von unserer Seite vorgesehen. Du wirst auch zu dieser Delegation gehören.«
»Ich?«, fragte Nastja verwirrt. »Warum denn das?«
»Stell keine Fragen. Du fährst und basta. Ich habe dich zu diesem Aufenthalt im Sanatorium überredet, habe dir selbst die Einweisung besorgt und fühle mich zum Teil dafür verantwortlich, dass du dich nicht richtig erholen konntest. Darum fährst du jetzt nach Rom.«
»Und was ist mit der Jeremina?«, fragte Nastja begriffsstutzig.
»Was sollte damit sein? Wenn du den Fall nicht aufgeklärt hast, solange die Spuren noch heiß sind, spielen fünf, sechs Tage auch keine Rolle mehr. Du fliegst am 12. Dezember. Wenn du den Mörder bis dahin nicht gefunden hast, wirst du ihn ohnehin nie mehr finden. Im Übrigen wird das Leben hier auch ohne dich weitergehen. Wenn etwas zu tun sein wird, wird sich Tschernyschew darum kümmern. Außerdem werden wir den Praktikanten
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