Der gestohlene Traum
nichts Genaueres wissen. Er hatte sein Befremden zum Ausdruck gebracht, da mit begnügte er sich. Zumal die Zeit abgelaufen war und er zur Gegenüberstellung musste.
* * *
Nastja Kamenskaja ging von der Bushaltestelle nach Hause und sah angestrengt auf ihre Füße, um nicht bis zum Knöchel in Pfützen zu versinken. Sie war jetzt immer sehr müde, da sie, gewohnt an sitzende Arbeit, seit einigen Tagen die Pflichten einer ganz gewöhnlichen Kripobeamtin erfüllte. Sie musste kreuz und quer durch Moskau fahren, nach Adressen und bestimmten Personen suchen, sie musste mit diesen Personen sprechen und sie zum Reden bringen, was nicht immer leicht war, sie musste sie befragen und oft genug beknien, um eine Antwort zu erhalten. So war es eben, kaum jemand unterhielt sich gern mit der Miliz.
Ihre Erfolge waren bisher kümmerlich. Die Jeremina war nach dem 22. Oktober gleichsam vom Erdboden verschwunden. Niemand von den Personen, mit denen sie gewöhnlich verkehrte, hatte sie seither gesehen. Ihr fester Bekanntenkreis war nicht sehr groß, aber über die regelmäßigen Besäufnisse mit ihren Freunden hinaus hatte die Jeremina Kontakte zu zahlreichen zufälligen Saufkumpanen gepflegt. Alle diese Leute hatte Nastja gefunden und befragt, aber alle ohne Ausnahme hatten ausgesagt, dass sie Vika Jeremina seit dem 22. Oktober nicht mehr gesehen und auch nicht am Telefon gesprochen hatten. Mit vielen von ihnen war die Kommunikation gar nicht so einfach gewesen. Statt Nastja die Fragen nach ihrer so tragisch ums Leben gekommenen Bekannten zu beantworten, versuchten sie ständig zu beweisen, dass der Alkoholkonsum ihre persönliche Sache war und die Miliz nichts anging.
Aber etwas Wichtiges hatte Nastja aus diesen Gesprächen immerhin über die Jeremina erfahren: Je betrunkener sie war, desto stärker wurde ihr Bedürfnis, jemanden anzurufen. Während ihrer Besäufnisse, die manchmal zwei, drei Tage dauerten, rief sie fast alle zwei Stunden bei Boris Kartaschow an, um ihm mitzuteilen, dass bei ihr alles in Ordnung war, dass alle Männer Schurken und Idioten waren, die ihr nicht vorzuschreiben hätten, wie sie leben solle und wie viel und mit wem sie trinken dürfe. Sie rief auch bei ihrer Freundin Olga an, jener, mit der sie im Waisenhaus aufgewachsen war. Manchmal kam sie auch auf die Idee, in ihrer Firma anzurufen und anzukündigen, dass sie am nächsten Tag zur Arbeit erscheinen würde. Da sowohl Jereminas Chef als auch Olga und Boris Kartaschow versichert hatten, dass Vika seit ihrem spurlosen Verschwinden nicht bei ihnen angerufen hatte, konnte man daraus zumindest den Schluss ziehen, dass sie zu dieser Zeit nicht betrunken gewesen war. Vorausgesetzt natürlich, alle drei sagten die Wahrheit. Sollten diese drei ganz unterschiedlichen Personen, die weit voneinander entfernt wohnten und wenig miteinander gemeinsam zu haben schienen, allerdings in Absprache gelogen haben, dann musste das schwer wiegende Gründe haben. Und Nastja konnte sich nicht entscheiden, was sie nun an erster Stelle tun sollte: nach diesen geheimnisvollen Gründen forschen, sofern sie vorhanden waren, oder weiterhin versuchen, eine Spur der verschwundenen Frau zu finden.
Nastja teilte sich die Arbeit an dem Fall mit Andrej Tschernyschew aus der Regionalverwaltung für Inneres. Andrej war sehr sympathisch und rührig, und vor allem war er motorisiert, wodurch er am Tag dreimal mehr schaffte als Nastja. Er hatte ein Faible für Hunde, und seinen Schäferhund behandelte er wie ein Wunderkind, dessen intellektuelle Fähigkeiten auf keinen Fall durch falsche Ernährung oder ungenügende Betreuung in Gefahr gebracht werden durften. Man musste ihm allerdings lassen, dass der Schäferhund, der auf den seltsamen Namen Kyrill hörte, perfekt dressiert war, er gehorchte seinem Herrn nicht nur aufs Wort, sondern verstand sogar jeden seiner Blicke. Und Nastja wusste, dass Kyrill in der Tat besondere Fähigkeiten besaß. Vor einem halben Jahr, als sie an der Verhaftung eines Auftragskillers beteiligt gewesen war, hatte genau dieser Hund ihr dabei geholfen, sich unbemerkt aus der Gefahrenzone zu entfernen und den Killer den Beamten auszuliefern, die im Hinterhalt auf ihn warteten.
Äußerlich waren Nastja und Andrej Tschernyschew sich so ähnlich, dass man sie für Geschwister hätte halten können. Sie waren beide hoch gewachsen, hager und hellhaarig, sie hatten beide graue Augen und feine Gesichtszüge. Allerdings war Andrej sehr gut aussehend, was man von Nastja kaum
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