Der gestohlene Traum
hatte, überhaupt von Belang für die Sache war. Sie brauchte die zweite Vernehmung nur, um sich ihrer Annahmen zu vergewissern.
»Ich bitte Sie sehr, Kartaschow noch einmal zu vernehmen«, wiederholte Nastja starrsinnig. »Hier ist die Liste mit den Fragen, auf die ich unbedingt eine Antwort brauche.«
Nastja holte ein gefaltetes Blatt Papier aus ihrer Handtasche und reichte es dem Untersuchungsführer. Aber anstatt das Blatt entgegenzunehmen, holte dieser ein Formular aus der Schreibtischschublade.
»Ist gut, du kannst ihn vernehmen«, sagte er trocken, während er die Anweisung ausstellte.
»Ich dachte, das werden Sie selbst tun.«
»Wozu? Du bist es doch, die Fragen an Kartaschow hat, und nicht ich. Du kannst ihn so lange ausfragen, bis du alles erfährst, was du wissen willst. Wenn ich die Vernehmung mache, wirst du vielleicht wieder unzufrieden sein mit dem Ergebnis.«
»So habe ich das nicht gemeint, Konstantin Michajlowitsch«, sagte Nastja vorwurfsvoll. »Ich habe doch nicht gesagt, dass die erste Vernehmung nicht zufrieden stellend war. Es sind einfach nur neue Fragen aufgetaucht.«
»Welche?« Olschanskij hob abrupt den Kopf.
Nastja schwieg. Sie hatte es sich angewöhnt, ihrem Gefühl zu trauen, auch wenn es noch so diffus war, aber sie sprach nie über dieses Gefühl, solange es nicht durch Fakten belegt war. Bei Viktoria Jeremina handelte es sich keinesfalls um einen verwickelten Mordfall mit widersprüchlichen Informationen. Alles, was Nastja in Erfahrung bringen konnte, fügte sich logisch ineinander, es gab nur nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, wo das Mädchen sich vom 22. Oktober bis zum 1. November aufgehalten hatte, in der Zeit also, in der sie allem Anschein nach erwürgt wurde. Wenn sie sich tatsächlich in einem psychotischen Zustand befunden hatte, war alles möglich, sie konnte jedem x-beliebigen Fremden an jeden x-beliebigen Ort gefolgt sein, es war sinnlos, hier nach Logik zu suchen. Einen Menschen, der sich in normaler geistiger Verfassung befand, suchte man in erster Linie bei seinen Verwandten oder Bekannten, es kam nur darauf an, den entsprechenden Personenkreis möglichst komplett zu erfassen. Aber die Handlungen eines Geisteskranken waren unberechenbar. Vika verlässt das Haus ohne Papiere und vielleicht ohne jedes Ziel vor Augen. Ihre Leiche wird nur ganz zufällig entdeckt, denn die Beeren- und Pilzsaison ist vorüber, und der November ist nicht die Zeit für Waldspaziergänge. Zum Glück kann die Ermordete wenigstens identifiziert werden, allerdings nur deshalb, weil eine Vermisstenanzeige vorliegt. Nein, der Mordfall Jeremina war keinesfalls verwickelt. Es lag nur erstaunlich wenig Information vor, und das war die ganze Crux.
Obwohl die Antwort aus dem Amt für Visa- und Aufenthaltsangelegenheiten noch nicht vorlag, nahm Nastja innerlich Abschied von der Version, auf die sie noch bis vor zwei Tagen gebaut hatte. Das, was sie herausgefunden hatte, deutete nicht darauf hin, dass Vika von irgendeinem ausländischen Liebhaber ermordet wurde. Hier handelte es sich um etwas ganz anderes . . .
»Also, welche neuen Fragen sind aufgetaucht?«, erkundigte Olschanskij sich mit leiser, nachdrücklicher Stimme, während er Nastja den Vernehmungsauftrag über den Tisch schob. »Ich warte immer noch auf deine Antwort.«
»Darf ich Ihre Frage nach der Vernehmung beantworten?«
»Du darfst. Aber denk daran, Kamenskaja, du hast nicht das Recht, mir Informationen vorzuenthalten, sogar dann nicht, wenn du der Meinung bist, dass diese Informationen unwichtig für mich sind. Wir arbeiten zum ersten Mal zusammen, darum warne ich dich vor. Mit mir kannst du nicht Verstecken spielen. Wenn ich dir dahinter komme, packe ich dich am Fell und schmeiße dich hier raus wie eine räudige Katze. Du wirst dann zum letzten Mal an einem Fall gearbeitet haben, der einem Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft obliegt. Dafür werde ich Sorge tragen. Bilde dir nicht ein, dass du die Klügste von allen bist und selbst entscheiden kannst, was in einem Mordfall wichtig ist und was nicht. Vergiss nicht, dass die prozessführende Person ich bin und nicht du. Deshalb wirst du nach meinen Regeln spielen müssen und nicht nach denen, die bei euch in der Petrowka üblich sind. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Konstantin Michajlowitsch, ich habe Sie verstanden«, murmelte Nastja und verließ rasch das Büro des Untersuchungsführers. Jetzt weiß ich, warum ich ihn nie gemocht habe, dachte sie wütend. Was
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