Der gestohlene Traum
bildet der sich eigentlich ein; dieser unverschämte Kerl, dieser Flegel!
Nastja musste Kartaschow anrufen und ein Treffen mit ihm vereinbaren. Sie ging hinunter ins erste Stockwerk, wo einer ihrer ehemaligen Kommilitonen, der inzwischen die rechte Hand des Staatsanwaltes war, sein Büro hatte. Von dort aus wollte sie den Anruf machen, denn auf die öffentlichen Telefone war kein Verlass. Entweder waren sie defekt, oder man hatte die passenden Münzen nicht zur Hand.
* * *
Nastja verließ sich nie auf den ersten Eindruck, den ein Mensch auf sie machte. Aber Boris Kartaschow war ihr sofort sympathisch.
Als er ihr die Tür öffnete, ein fast zwei Meter langer Mann in Jeans, einem blauweiß karierten Flanellhemd und einem dunkelgrauen Kamelhaarpullover, wollte Nastja sich ein Lächeln verkneifen, aber es gelang ihr nicht, Stattdessen brach sie in lautes Gelächter aus. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und während sie sich vor Lachen ausschüttete, war sie froh darüber, dass sie sich heute die Augen nicht geschminkt hatte, sonst wären jetzt ganze Bäche schwarzer Tusche über ihre Wangen gelaufen.
»Was ist mit Ihnen los?«, fragte Kartaschow erschrocken. Nastja winkte ab, zog ihre Jacke aus und reichte sie Kartaschow, worauf dieser selbst in haltloses Gelächter ausbrach. Nastja trug die gleichen Jeans wie er, das gleiche blauweiß karierte Hemd, nur ihr Kamelhaarpullover war von einem etwas helleren Grau als der seine.
»Wir sind ja wie zwei Geklonte«, sagte Kartaschow, sich verschluckend vor Lachen. »Wer hätte gedacht, dass ich mich genauso kleide wie die Leute von der Kripo. Treten Sie ein, bitte.«
Während Nastja sich in der Wohnung des Künstlers umsah, fragte sie sich erstaunt, warum Gordejew ihn einen Bohemien genannt hatte. Sie konnte in Jereminas Freund nichts dergleichen erblicken, weder in seiner Kleidung noch in seinem Aussehen. Er hatte kurzes, dichtes Haar, das sich vorn allerdings bereits etwas zu lichten begann, einen gepflegten Oberlippenbart, eine große, etwas zu lange Nase und den Körperbau eines trainierten Sportlers. Weder an ihm selbst noch an seiner Wohnung konnte sie etwas bemerken, das auf Nachlässigkeit schließen ließ. Das Zimmer war mit bequemen, eher konservativen Möbelstücken eingerichtet, am Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem zahlreiche Skizzen und Bilder lagen.
»Möchten Sie Kaffee?«
»Sehr gern«, sagte Nastja erfreut, die es nie länger als zwei Stunden ohne eine Tasse Kaffee aushielt.
Sie nahmen in der gemütlichen, sauberen Küche Platz, die ganz in beigefarbenen und hellbraunen Tönen gehalten war, was Nastja ebenfalls gefiel. Erfreut stellte sie fest, dass der Kaffee stark und wohlschmeckend war, der Gastgeber hantierte geschickt mit dem türkischen Cezve, und trotz seiner eindrucksvollen Statur bewegte er sich leicht und graziös.
»Erzählen Sie mir etwas über Vika«, bat Nastja.
»Was möchten Sie wissen? Wie sie krank geworden ist?«
»Nein, erzählen Sie mir von Anfang an. Warum ist sie im Waisenhaus gelandet?«
Die dreijährige Vika Jeremina kam ins Waisenhaus, als ihre Mutter, eine Alkoholikerin, zwangsweise zu einer Entziehungskur in eine Klinik eingewiesen wurde. In dieser Klinik starb Mutter Jeremina nach einigen Monaten. Sie hatte sich mit Spiritus betrunken, der von wer weiß woher in ihre Hände gelangt war. Die Mutter war nie verheiratet gewesen, es gab auch keine Verwandten, die Vika hätten aufnehmen können. Nach dem Tod ihrer Mutter blieb sie noch für einige Zeit in dem Kinderheim, in dem man sie vorübergehend aufgenommen hatte, dann kam sie ins Waisenhaus. Dort wuchs sie auf, besuchte eine Berufsschule und wurde Malermeisterin. Sie begann zu arbeiten und bekam einen Platz in einem Wohnheim. In der Arbeitszeit arbeitete sie, in der Freizeit schlug sie Kapital aus ihrer auffallenden, ungewöhnlichen Schönheit. So ging es ziemlich lange, bis sie vor etwa zweieinhalb Jahren auf ein Stellenangebot in der Zeitung stieß. Eine Firma suchte eine Sekretärin, die nicht älter als dreiundzwanzig Jahre sein durfte. Vika war zynisch genug, um zu begreifen, worum es sich hier handelte. Sie kaufte sich noch ein paar weitere Zeitungen, las aufmerksam die Stellenangebote durch und wählte diejenigen aus, in denen junge hübsche Mädchen angesprochen wurden. So kam sie schließlich zu der Firma, bei der sie bis zuletzt gearbeitet hatte.
»Wann haben Sie Vika kennen gelernt?«
»Schon vor langer Zeit, als sie noch Malermeisterin war.
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