Der gestohlene Traum
Natürlich nur dann, wenn du damit einverstanden bist. Deshalb würde ich gern von dir wissen, ob du für eine Weile zu uns nach Hause mitkommen und mich und meinen Mann näher kennen lernen möchtest, oder ob es dir genügt, wenn ich dir gleich hier alle deine Fragen beantworte.«
»Haben Sie Kinder?«, fragte Oleg unvermittelt.
»Nein.« Die Dachno schüttelte den Kopf.
»Das heißt, wenn Sie mich adoptieren . . .«
». . . dann wirst du unser einziges Kind sein«, beendete Natalja Jewgenjewna den von Oleg begonnenen Satz.
»Ich bin einverstanden mit der Adoption«, erklärte der Junge entschieden.
»Aber du kennst mich doch noch gar nicht«, entgegnete sie verwirrt. »Du hast mich noch nicht einmal gefragt, wie ich heiße, wer ich bin, was ich mache . . . Bist du dir sicher, dass du diese Entscheidung jetzt sofort treffen kannst?«
»Ich würde sehr gern Mama zu Ihnen sagen«, erwiderte Oleg leise und sah ihr direkt in die Augen.
Und in diesem Moment begriff Natalja Jewgenjewna sehr viel über den dreizehnjährigen Oleg Mestscherinow. Arsenn hat dich nicht umsonst einen kleinen Halunken genannt, dachte sie. Du bist wirklich ein Halunke, wenn auch kein kleiner mehr. Du bist ein kluger, belesener, frühreifer Halunke. Mit deinen dreizehn Jahren besitzt du bereits eine gewisse Menschenkenntnis. Bei deinen Eltern hattest du es offenbar sehr gut, du bist an Bequemlichkeit und Komfort gewöhnt, man hat dich geliebt, verwöhnt, mit Geschenken überhäuft. Zumindest aber hat man deine kindlichen Leidenschaften und Eigenheiten respektiert, man hat dich nicht bevormundet, nicht in Watte gepackt, nicht unterdrückt und nicht wegen jeder Kleinigkeit zurechtgewiesen. Du hast deine Eltern nicht blind und bedingungslos geliebt, nur deshalb, weil sie deine Eltern waren. Du hast sie so geliebt, wie man eine wohlschmeckende Speise liebt, einen bequemen Sessel oder ein gutes Buch. Sie waren für dich die Quelle des Komforts und der Bequemlichkeit, und als sie starben und das Schicksal dich ins Waisenhaus verschlug, hast du beschlossen, alles dafür zu tun, um so bald wie möglich wieder in eine Familie zu kommen, wo du wieder den Teller hausgemachter Suppe haben wirst, ein weiches Bett und normale Kleidung. Du hast mich gefragt, ob ich Kinder habe. Natürlich ist es für dich wichtig, dass du der Einzige bist, dass du unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und Liebe bekommst. Du möchtest mich Mama nennen? Das ist gut, aber denke nicht, dass ich deshalb dahinschmelze und nicht mehr vernünftig denken kann. Du bist ein wenig zu klug für dein Alter. Und ein bisschen mehr Halunke, als es dir in deinem Alter zusteht. Aber ich werde dich trotzdem adoptieren. Weil ich fühle, dass wir beide von einem Blut sind.
»Ich bin sehr froh, dass wir einander mögen«, sagte Natalja mit einem weichen Lächeln. »Ich hoffe, dass es mir möglichst schnell gelingt, alle Formalitäten zu erledigen, und wenn du es dir nicht anders überlegst, werden wir in zwei, drei Tagen schon zusammen sein. Aber weißt du, Oleg, ich fürchte mich ein wenig vor voreiligen Entschlüssen. Denke noch einmal gut nach. Und wenn du es dir anders überlegst, werde ich dich verstehen und nicht böse sein.«
»Ich werde es mir nicht anders überlegen«, entgegnete der Junge mit leiser, ernster Stimme.
»Dann werden wir uns jetzt verabschieden, und ich werde sofort alles in die Wege leiten. In den nächsten Tagen werde ich dich abholen. Auf Wiedersehen, Oleg.«
»Auf Wiedersehen . . . Mama«, sagte er verlegen und fügte etwas ungezwungener hinzu: »Darf ich Ihnen zum Abschied einen Kuss geben?«
Du Schlitzohr!, dachte die Dachno entzückt, während sie Oleg ihre Wange hinhielt. Wo hast du das gelernt? Jede Frau, die ein Kind adoptieren will, träumt davon, dass dieses Kind sich genau so verhält, wie du das tust.
Sie steuerte den Wagen sicher über die Straße und dachte an das bevorstehende Gespräch mit ihrem Mann. Er sollte das Gefühl haben, dass sie sich mit ihm beriet, obwohl sie sich längst zu der Adoption entschlossen hatte. Ihr Herz war nicht in heißer Liebe zu dem Jungen entbrannt, so, wie es früher immer in ihren Träumen war, wenn sie sich ein lockiges, nach Milch und kindlicher Unschuld duftendes Engelchen mit blauen Augen und Grübchen in den Wangen vorgestellt hatte.
Oleg roch nicht nach Milch und Unschuld, er roch nach starker Willenskraft, nach kaltem Verstand und nach Gefahr. Aber das musste ihr Mann nicht unbedingt wissen.
Als sie die Wohnung
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