Der gestohlene Traum
erregen? Zwei Mal hatte sie sich bereits an der Grenze zur Ohnmacht befunden, ein drittes Mal würde der Trick nicht mehr funktionieren, Natalja Jewgenjewna tat nie zu viel des Guten. Sie musste versuchen, Larzew in ein Gespräch zu verwickeln.
»Ihre Frau ist wahrscheinlich verzweifelt«, sagte sie schuldbewusst. »Ich werde mir das alles nie verzeihen . . . Es gibt keinen schlimmeren Schmerz als den einer Mutter um ihr Kind.«
»Meine Frau ist gestorben«, erwiderte Larzew knapp. »Lassen Sie uns noch einmal versuchen, alles zu rekonstruieren, was Sie über diesen Mann wissen.«
In der Wohnungstür wurde ein Schlüssel umgedreht, die Tür fiel ins Schloss.
»Mama, bist du zu Hause?«, hörte Larzew jemanden rufen. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor.
Er wandte seinen Kopf zur Tür und stieß mit den Augen auf einen präparierten Elchkopf, der an der Wand hing. Und in diesem Augenblick begriff er, dass er einen schrecklichen, nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte. Diese Frau, die sich bereits seit zwei Stunden mit ihm unterhielt, konnte keine Jägerin sein. Die Tränen, die Klagen, die Ohnmachtsanfälle, die ihm hier so überzeugend vorgespielt wurden, konnten nicht zu einer Frau gehören, die stundenlanges, bewegungsloses Warten in der Wildnis gewohnt war, bis ein wütender Eber auf sie zuschoss, einer Frau, die sich während der Entenjagd mit dem Boot einen Weg durch mannshohes Schilf bahnte, in dem man so leicht die Orientierung verlieren und sich verirren konnte, einer Frau, die es gewohnt war, erlegtes Wild zu häuten und ausbluten zu lassen. Auch ihr Hund war kein Jagdhund, sondern ein Polizeihund, ein reinrassiger Dobermann, der die Funktionen eines Leibwächters erfüllte und dazu da war, einem unerwünschten Gast den Eintritt in die Wohnung zu verwehren. Ein Jäger hielt sich einen Setter oder einen Terrier. Aber wenn sich jemand einen Dobermann zulegte, dann musste es in seinem Leben sehr viel gefährlichere Dinge geben als die Jagd. . . Larzew hatte sich hereinlegen lassen. In seiner Qual und blinden Angst um seine Tochter war der Profi in ihm zu spät erwacht.
Larzew griff nach seinem Revolver, aber Oleg Mestscherinow, der das Zimmer betrat, riss im selben Moment ein Gewehr von der Wand. Es fielen zwei Schüsse gleichzeitig.
SECHZEHNTES KAPITEL
Vor acht Jahren hatte Arsenn die Dachno eines Tages angerufen und ihr eine erfreuliche Mitteilung gemacht.
»Natalja, ich habe einen zauberhaften kleinen Halunken für Sie gefunden«, hatte er gesagt. »Dreizehn Jahre, ein prächtiges Kerlchen, absolut gesund, physisch und psychisch, keinerlei Dummheiten oder intellektuelle Flausen im Kopf. Fahren Sie zum Waisenhaus, die Direktorin erwartet Sie.«
Natalja Jewgenjewna fuhr sofort los. Die Direktorin, die bereits großzügig entlohnt worden war, empfing Natalja mit offenen Armen und zeigte ihr bereitwillig Oleg Mestscherinows Papiere.
»Er stammt aus einer sehr guten Familie«, versicherte die Direktorin diensteifrig. »Die Eltern waren Akademiker, beide Kandidaten der Wissenschaften, sie sind vor zwei Jahren bei einer Hochgebirgsexpedition im Pamir ums Leben gekommen. In der Familie gab es keine chronischen Erkrankungen, keinen Alkoholmissbrauch. Der Junge wurde richtig erzogen, er hat einen sehr guten Charakter, ruhig und umgänglich. Oleg ist der am besten erzogene, höflichste Junge bei uns. Soll ich ihn rufen?«
»Ja, rufen Sie ihn«, stimmte die Dachno zu.
Sie war sehr aufgeregt, denn sie war klug genug, um zu wissen, dass sie keine Wahl hatte. Sie musste das Kind nehmen, ob sie wollte oder nicht, denn es handelte sich um einen Befehl von Arsenn, auch wenn es nach außen nach liebevoller Fürsorge und Hilfe aussah. Natalja machte sich nichts vor, sie wusste genau zu unterscheiden.
Sollte der Junge ihr nicht gefallen, musste sie ihn trotzdem adoptieren, sie musste dieses Kreuz dann auf sich nehmen und für den Rest ihres Lebens tragen.
Die Tür öffnete sich vorsichtig, das Büro betrat ein hoch aufgeschossener, breitschultriger Junge mit hellem Haar, geradem Blick und energischem Kinn.
»Guten Tag«, sagte er ohne jede Verlegenheit. »Ich bin Oleg Mestscherinow. Die Direktorin hat mir gesagt, dass Sie mich sprechen möchten.«
Natalja Jewgenjewna bemerkte sofort, dass der Junge sehr angespannt war, aber er unterdrückte diese Anspannung mit ganz unkindlicher Willenskraft.
»Guten Tag, Oleg«, lächelte sie. »Man hat dir sicher gesagt, dass ich dich adoptieren möchte.
Weitere Kostenlose Bücher