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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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betrat, saß ihr Mann vor dem Fernseher und sah sich ein Fußballspiel an.
    »Wo warst du?«, fragte er gleichgültig, ohne vom Bildschirm aufzusehen.
    »Ich werde dir alles erzählen«, erwiderte Natalja Jewgenjewna mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Lass uns bis zur Halbzeit warten, dann unterhalten wir uns. Ich esse einstweilen etwas zu Abend.«
    Sie hatte sich nicht verkalkuliert. Ihr Mann war in nachgiebiger, zugänglicher Stimmung, weil sie rücksichtsvoll genug gewesen war, ihm den Spaß am Fußball nicht zu verderben.
    »Ich war heute im Waisenhaus«, begann sie vorsichtig, nachdem ihr Mann in der Halbzeit zu ihr in die Küche gekommen war.
    »Warum hast du mich nicht mitgenommen?«, fragte ihr Mann verärgert. »Schließlich willst nicht nur du allein ein Kind adoptieren, mich geht die Sache auch etwas an.«
    »Verzeih, Lieber, aber du hast gesagt, du hättest heute eine schwierige Operation. Und ich habe beschlossen, dich nicht zu stören. Weißt du, der Junge, den ich gesehen habe, hat einen sehr ungewöhnlichen Eindruck auf mich gemacht. Er ist klug, selbständig, gesund, gut erzogen. Allerdings hat er eine schreckliche Tragödie erlebt, er hat beide Elternteile gleichzeitig verloren, insofern befindet er sich in einem nicht ganz einfachen Seelenzustand . . . Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Was meinst du? Entscheide du, wir machen es so, wie du es für richtig hältst.«
    »Wie alt ist er denn?«
    »Dreizehn.«
    »Schon so alt?«, wunderte sich der Ehemann.
    »Ein kleines Kind ist sehr schwer zu bekommen«, erklärte Natalja geduldig. »Du erinnerst dich, was wir durchgemacht haben, als wir nach einem kleinen Kind gesucht haben. Mit einem Halbwüchsigen ist es einfacher, die meisten Familien wollen keine Kinder in diesem Alter. Was meinst du dazu?«
    Ihr Mann stellte eine Vielzahl von Fragen, die Natalja umfassend beantwortete. Schließlich begriff sie, dass sie ihn in eine Sackgasse gebracht hatte. Er versuchte, wie immer, es ihr recht zu machen und das zu sagen, was sie hören wollte, aber er konnte einfach nicht verstehen, was sie dieses Mal von ihm wollte. Gefiel ihr der Junge oder nicht? Wollte sie ihn adoptieren, oder suchte sie nach einem Vorwand, um die Adoption abzulehnen? Und Natalja ihrerseits äußerte keine Meinung, weil sie auf keinen Fall den Verdacht erwecken wollte, dass sie die Entscheidung bereits getroffen hatte. Aber ihr Mann hatte sie zu Recht gefragt, ob Oleg Mestscherinow ihr gefiel oder nicht. Er hatte nichts mit dem Sohn gemeinsam, dessen Bild sie so lange in ihrem zerquälten, sehnsuchtsvollen Mutterherzen herumgetragen hatte. Aber mit derselben Sicherheit wusste sie auch etwas anderes. Arsenn persönlich hatte diesen Jungen ausgesucht, und er hatte etwas ganz Bestimmtes mit ihm vor.
    Nataljas Aufgabe bestand darin, den Jungen so zu erziehen, wie Arsenn es haben wollte, ihn zuerst zu Arsenns Gehilfen zu machen, dann zu seinem Gleichgesinnten und schließlich zu seinem Mitstreiter. Dabei »hatte es nicht die geringste Bedeutung, ob Oleg ihr gefiel ihr oder nicht, ob sie seine Mutter werden wollte oder nicht. Bedeutung hatte nur eines: War der Junge geeignet, den Weg einzuschlagen, den Arsenn für ihn bestimmt hatte? Natalja war ins Waisenhaus gefahren, um einen zukünftigen Mitarbeiter des Innenministeriums zu begutachten, der als solcher der Mafia zuarbeiten musste. Ihr Urteil war nicht schlecht ausgefallen, der Kandidat hatte eine hohe Punktzahl bekommen. Jetzt musste sie ihrem Mann das Gefühl geben, er sei das Familienoberhaupt und der Entscheidungsträger in dieser Angelegenheit. Natalja musste ihren Ehemann gut behandeln, darauf bestand Arsenn kategorisch, und Natalja wusste, dass er Recht hatte. Ihr Mann war ein schwacher Mensch, der leicht in Abhängigkeiten geriet. Man musste diesen Mann sehr behutsam behandeln, man durfte ihn nicht beleidigen und vor den Kopf stoßen, er konnte sonst leicht zum Opfer einer anderen Frau werden. Er wusste zu viel, deshalb durfte man ihn keinesfalls aus der Familienbande, sprich aus Arsenns Klauen, entlassen. Zudem hatte er den sehr wertvollen, nützlichen Beruf des Anästhesisten. Ohne einen solchen Spezialisten konnte Arsenn nicht auskommen, und es wäre sehr aufwendig und riskant gewesen, einen anderen zu suchen.
    Ich muss ihm zu verstehen geben, dass der Junge mir gefallen hat, sonst kommt er nie zu einer Entscheidung, dachte die Dachno und sagte:
    »Weißt du, mit diesem Jungen muss man sehr behutsam umgehen, man muss ihm

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