Der gestohlene Traum
Küche saß und mit Oleg Tee trank, zitterten ihr noch die Knie. Anstelle des Tees hätte sie gern etwas Stärkeres zu sich genommen, aber sie hielt es für unangebracht, in Anwesenheit eines Siebzehnjährigen Alkohol zu trinken. Aus irgendeinem Grund war es ihr peinlich, ihre Schwäche zu zeigen.
»Du bist ganz schön erschrocken, was, Mam?«, fragte Oleg und sah ihr forschend in die Augen.
»Ja, Söhnchen, wozu leugnen. Mir ist immer noch ganz mulmig«, gab Natalja ehrlich zu.
Oleg erhob sich, öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine angebrochene Flasche Wodka.
»Lass uns ein Gläschen trinken, Mam. Du musst dich entspannen, sonst kannst du nicht schlafen«, sagte er, während er Gläser aus dem Schrank holte und schnell ein paar Brote belegte.
»Danke, Oleg«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. »Ich wollte in der Tat sehr gern etwas trinken, aber es war mir peinlich.«
Oleg legte das Messer zur Seite, trat zu Natalja und schmiegte seine Wange an die ihre.
»Ich bin dein Sohn. Vor mir muss dir nichts peinlich sein. Denn du bist meine Mutter und wirst für mich immer die beste, die richtigste, die wunderbarste und weiseste von allen sein, was immer du anstellst.«
»Danke, mein Bester.« Sie zauste zärtlich sein dichtes helles Haar, streichelte seinen Nacken und seine Schulter. »Ich bin sehr glücklich, dass du so für mich empfindest. Aber vielleicht ist es nicht gut, wenn du mir beim Trinken Gesellschaft leistest.«
»Erstens ist es unanständig, allein zu trinken, das tun nur Alkoholiker«, lachte Oleg. »Zweitens bin ich nicht weniger erschrocken als du. Du bist sehr mutig, Mam, aber du musst auf dich aufpassen. Ich möchte dich nicht verlieren.«
Natalja fühlte fast körperlich, wie ihre Seele sich spaltete. Die eine Hälfte wusste, dass alles das ein gekonntes Spiel war, dass Oleg in jedem Moment nur die Erwartungen seines Gegenübers erfüllte. Er war ein außergewöhnlicher Junge, der über ein höchst feines psychologisches Gespür verfügte. Er erahnte immer sofort, was in seinem Gesprächspartner vor sich ging, und stellte sich auf ihn ein, er passte sich perfekt an und erfüllte jede noch so hohe Erwartung. Nicht umsonst waren ausnahmslos alle von ihm begeistert. In vier Jahren hatte er kein einziges Mal etwas gesagt oder getan, wofür man ihn hätte tadeln müssen.
Aber die andere Hälfte ihrer Seele wollte so sehr glauben, dass das alles wahr war, dass Oleg wirklich ein zärtlicher, fürsorglicher, feinfühliger Sohn war, der seine Mutter vergötterte, ein begabter, zielstrebiger, ehrlicher, anständiger Junge.
Gib dich keinen Sentimentalitäten hin, ermahnte Natalja Jewgenjewna sich ständig, man darf ihm nicht glauben, du weißt genau, wer und was er ist. Er ist dein Zögling und wird niemals dein Sohn sein. Er spielt den liebenden Sohn nur deshalb, weil er will, dass du ihm eine fürsorgliche Mutter bist. Aber sie wollte so sehr daran glauben, dass ihr Traum sich erfüllt hatte . . .
Vor zwei Jahren . . . Natalja nahm Oleg zum ersten Mal zum Schießstand mit. Gewöhnlich ging sie allein zum Training, ihr Sohn hatte seinen eigenen Tagesablauf und machte seine Schießübungen zu anderen Zeiten und an anderen Orten. Natalja Jewgenjewna wusste von Olegs sportlichen Erfolgen, er erzählte ihr davon und brachte des Öfteren Urkunden und Pokale mit nach Hause. Zu seinen Sportarten gehörte, neben dem Schießen, auch das Schwimmen und Ringen, außerdem spielte er Schach.
Die Ergebnisse des gemeinsamen Schießtrainings verblüfften Natalja. Oleg konnte besser schießen als sie selbst. In Nataljas Verblüffung mischte sich ein ihr bisher unbekanntes Glücksgefühl. Es hatte noch nie jemanden gegeben, der ihr im Schießen ebenbürtig war. Und die Vorstellung, dass es jemanden gab, der sie eines Tages übertreffen könnte, war ihr immer unangenehm gewesen. Bis jetzt. Sie hätte am liebsten geweint vor Freude. So eine Freude konnten nur echte Lehrer oder liebende Eltern empfinden.
»Ich danke dir, Söhnchen«, murmelte sie, während sie Oleg umarmte und ihr Gesicht an seine Schulter drückte, um ihre aufsteigenden Tränen zu verbergen.
»Wofür?«, fragte Oleg erstaunt.
Dafür, dass ich durch dich dieses Gefühl der Freude und des Stolzes erfahre. Dafür, dass ich dich offenbar wirklich liebe, dachte die Dachno. Aber sie zog sich mit einer scherzhaften Bemerkung aus der Affäre.
»Dafür, dass du deiner Mutter, der Meisterschützin, keine Schande gemacht hast«, erwiderte
Weitere Kostenlose Bücher