Der gestohlene Traum
war etwa vier bis fünf Tage vor der Leichenbeschau durch den Gutachter eingetreten. Zur Identifizierung der Ermordeten wurden alle Vermisstenanzeigen angefordert, die verschwundene junge Frauen betrafen. Aus diesen Anzeigen wurden jene herausgesucht, in denen es hieß, dass die Verschwundene lange dunkle Haare hatte und 168 bis 173 Zentimeter groß war. Es fanden sich vierzehn Anzeigen mit der entsprechenden Personenbeschreibung. Die Adressanten dieser Anzeigen wurden zum Erscheinen zwecks Identifizierung der Leiche aufgefordert, und die neunte erschienene Person erkannte die Tote. Es handelte sich um die sechsundzwanzigjährige Viktoria Jeremina, die als Sekretärin in der Firma arbeitete, bei der der Mann, der die Tote identifiziert hatte, Geschäftsführer war. Er hatte die Vermisstenanzeige aufgegeben, da Vika in einem Waisenhaus aufgewachsen war und weder Verwandte noch einen Ehemann hatte. Insofern wurde das Verfahren in diesem Fall aufgrund einer Vermisstenanzeige vom Arbeitsplatz eingeleitet.
Aus den Unterlagen ging ferner hervor, dass Viktoria Jeremina am Montag, dem 25. Oktober, nicht zur Arbeit erschienen war. Niemand machte sich deshalb ernsthafte Sorgen, weil jeder wusste, dass Vika dem Alkohol nicht abgeneigt war und oft versumpfte. Als sie auch am nächsten Tag ihrem Arbeitsplatz fernblieb, rief man bei ihr Hause an. Doch das Telefon wurde nicht abgenommen, woraus man den Schluss zog, dass sie sich diesmal für längere Zeit dem Suff ergeben hatte. Am Mittwoch, dem 27. Oktober, rief ihr Freund Boris Kartaschow in der Firma an und fragte nach Vika, aber natürlich wusste niemand etwas über ihren Verbleib. Nachdem man ihre sämtlichen Freunde angerufen und bei ihr in der Wohnung nachgesehen hatte (Kartaschow besaß einen Schlüssel zur Wohnung seiner Freundin), wurde offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Kartaschow wandte sich an die Miliz, aber dort sagte man ihm das, was in solchen Fällen üblich war. Vorläufig gäbe es keinen Grund zur Panik, man müsse noch ein paar Tage abwarten. Es handle sich schließlich um eine allein stehende junge Frau, die für ihre Trunksucht bekannt war. Sie würde sicher von selbst wieder auftauchen. Außerdem würde man von ihm, Kartaschow, ohnehin keine Vermisstenanzeige entgegennehmen, diese müsse vom Arbeitgeber der Vermissten erstattet werden.
Diese Anzeige erreichte die Miliz am 1. November, und am Tag darauf wurde Vika Jeremina fünfundsiebzig Kilometer hinter Moskau tot in einem Waldstück aufgefunden. Wenn man sich auf das Gutachten verlassen konnte, war der Tod nicht vor dem 30. Oktober eingetreten. Während Kartaschow fieberhaft nach seiner Freundin suchte, während die Kollegen in der Firma ratlos mit den Schultern zuckten und die Miliz nichts tat, war Vika also noch am Leben, und hätte man die Suche nach ihr früher eingeleitet, hätte man sie vielleicht noch lebend gefunden.
Viel ging aus den spärlichen Unterlagen, die Nastja zur Verfügung standen, nicht hervor, der größte Teil der Akte befand sich bei Konstantin Michajlowitsch Olschanskij, einem Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft. Nastja besaß nur die Fotokopien der Unterlagen, die die Zeit vom Eingang der Vermisstenanzeige bis zur Auffindung der Leiche betrafen. Das war in der Tat nicht viel, aber auch geringfügige Informationen mussten sorgfältig ausgewertet werden. Nastja drängten sich immer neue Fragen auf.
Warum beschäftigte eine solide Firma, die ihre Mitarbeiter zum Teil in Dollar bezahlte und keinen schlechten Ruf in Geschäftskreisen hatte, eine undisziplinierte, trunksüchtige Sekretärin? War es vielleicht möglich, dass die besagte Sekretärin die Geschäftsleitung erpresste und sich so ein angenehmes Postchen in Verbindung mit einer stabilen Valuta-Einnahme sicherte? War womöglich das der Grund für ihre Ermordung?
Warum war Kartaschow erst am Mittwoch, dem 27. Oktober, auf die Suche nach seiner Freundin gegangen, obwohl nach Aussagen von Vikas Bekannten bereits seit Samstag, dem 23. Oktober, niemand mehr etwas von ihr gesehen und gehört hatte? Am Freitag, dem 22. Oktober, war die Jeremina im Büro gewesen, das hatten ihre Kollegen bestätigt, um 17 Uhr war offizieller Büroschluss, und danach hatte man sich zu einem kleinen Umtrunk versammelt, um zusammen mit ausländischen Geschäftspartnern einen erfolgreichen Abschluss zu feiern. Anschließend brachte einer dieser ausländischen Geschäftspartner Vika mit seinem Wagen nach Hause. Allem Anschein nach war sie
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