Der gestohlene Traum
hatte lange gebraucht, um sich zu diesem Gespräch zu entschließen, und nun konnte sie den Anfang nicht finden. Sie verzehrte langsam das gebratene Fleisch auf ihrem Teller, brühte umständlich Tee auf, anschließend spülte sie lange und pedantisch das Geschirr, scheuerte die Töpfe und Pfannen. Aber Leonid Petrowitsch kannte seine Stieftochter gut genug, um zu wissen, dass es an der Zeit war, ihr zu Hilfe zu kommen.
»Was ist los mit dir, Kind? Heraus mit der Sprache.«
»Papa, glaubst du nicht, dass Mutter jemanden in Schweden hat?«, platzte Nastja heraus, ohne ihren Stiefvater anzusehen.
Leonid Petrowitsch schwieg lange, während er im Zimmer auf und ab ging, dann blieb er stehen und sah Nastja ruhig an.
»Es scheint so. Aber es scheint mir auch, dass dich das erstens nichts angeht und dass es zweitens keine Tragödie ist.«
»Wie meinst du das?«
»Ich werde es dir erklären. Deine Mutter hat sehr früh geheiratet, einen Klassenkameraden, wenn du dich erinnerst. Sie war damals gerade erst achtzehn. Die beiden haben geheiratet, weil du unterwegs warst. Diese Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Deine Mutter ließ sich von deinem Vater scheiden, als du noch nicht einmal zwei Jahre alt warst. Eine zwanzigjährige Studentin mit einem kleinen Kind. Windeln, Kinderkrankheiten, erfolgreiches Studium, Aspirantur, Kandidatin der Wissenschaften, eine eigene Richtung in der Wissenschaft, Essays, Konferenzen, Dienstreisen, Doktorarbeit. . . Ist das nicht ein bisschen viel für eine einzige Frau? Von mir hatte sie nicht viel Hilfe zu erwarten, ich arbeitete bei der Kripo, ging früh aus dem Haus und kam spät zurück, sie musste alles allein machen. Auch als du groß genug warst, um ihr im Haus zu helfen, verlangte sie nicht von dir, dass du einkaufen gehst, Kartoffeln schälst und staubsaugst, weil sie sah, wie gern du liest, dich mit Mathematik und Fremdsprachen beschäftigst, und sie war überzeugt davon, dass die geistige Entwicklung für ein Kind wichtiger ist als die Erziehung zur Hausarbeit. Hast du einmal darüber nachgedacht, was für ein Leben deine Mutter hatte? Sie ist jetzt einundfünfzig und immer noch schön, obwohl Gott allein weiß, wie sie es bei diesem Leben geschafft hat, sich so gut zu halten. Als sie die Stelle in Schweden bekam, bot sich ihr zum ersten Mal die Möglichkeit, ein wenig freier, ruhiger und, wenn du so willst, schöner zu leben. Ja, schöner, rümpfe bitte nicht die Nase, daran ist nichts Verwerfliches. Ich weiß, dass es dir schwer zu schaffen gemacht hat, als sie ihren Arbeitsvertrag in Schweden um ein weiteres Jahr verlängert hat. Du denkst, dass sie uns nicht liebt, dass wir ihr nicht fehlen, und das kränkt dich. Nastjenka, mein liebes Kind, sie ist unserer einfach müde. Sie hat uns ein bisschen satt. In erster Linie mich natürlich. Aber sie soll sich ein wenig von uns ausruhen. Das hat sie verdient. Und ich gönne ihr auch eine Affäre. Auch das hat sie verdient. Ich war ihr immer ein guter Ehemann, aber nie ein guter Geliebter. Deine Mutter hat von mir schon seit zwanzig Jahren keine Blumen mehr bekommen, keine überraschenden Geschenke, ich konnte mit ihr nie eine schöne Reise machen, weil wir praktisch nie gleichzeitig über freie Zeit verfügten. Und wenn sie jetzt dort, in Schweden, alles das bekommt, was ihr so lange gefehlt hat, dann bin ich froh für sie. Es ist wenigstens ein kleiner Ausgleich.«
»Bist du denn überhaupt nicht eifersüchtig?«
»Doch, natürlich bin ich eifersüchtig. Aber in vernünftigen Grenzen. Weißt du, deine Mutter und ich sind sehr gute Freunde. Es ist keine Romantik in unserer Beziehung, aber wenn man siebenundzwanzig Jahre zusammengelebt hat. . . du verstehst selbst. Wir sind Freunde, und das ist in unserem Alter viel wichtiger. Hast du Angst, dass unsere Familie auseinander bricht?«
»Ja.«
»Nun ja . . . Entweder wird deine Mutter das bekommen, was ihr so sehr fehlt, und zurückkommen, oder sie wird sich von mir scheiden lassen und in Schweden heiraten. Was wird sich dadurch für dich persönlich verändern? Deine Mutter lebt auch jetzt nicht in Moskau, und wir wissen nicht, wann sie zurückkehren wird. Aber, Hand aufs Herz, ist dir die Anwesenheit deiner Mutter wirklich so wichtig? Entschuldige, mein Kind, aber ich kenne dich schon sehr lange und darf mir erlauben, dir manches zu sagen. Du brauchst deine Mutter eigentlich gar nicht besonders, es kränkt dich nur, dass sie aus eigenem Willen so weit weg von dir ist.
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