Der gestohlene Traum
einen Bären auf?«
»Nein, bestimmt nicht. Du weißt doch, dass ich ein sehr gutes Gedächtnis habe. Aber was mein Leben betrifft, so irrst du dich, wenn du denkst, dass ich mich langweile. Ich langweile mich nie. Es gibt immer Dinge, über die es sich nachzudenken lohnt, selbst in einem eintönigen Leben.«
»Und trotzdem bist du heute irgendwie verstimmt, Nastja. Hat dich jemand gekränkt?«
»Das vergeht wieder«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Die Müdigkeit, die Magnetstürme, die Parade der Planeten. Alles vergeht.«
* * *
Zu welcher Jahreszeit hätte Urlaub unpassender sein können als im November! In den Wintermonaten konnte man Ski laufen, im März und April konnte man seinen vom Vitaminmangel geschwächten Körper mit Trinkkuren im Kaukasus beleben und sich in den frühen Sonnenstrahlen der dortigen Kurorte wärmen, von Mai bis August gab es ohnehin zahllose Möglichkeiten, der September und Oktober waren die so genannte Samtsaison an den Ufern der warmen südlichen Meere, aber was sollte man im November machen? Der November war der freudloseste Monat des Jahres, dem goldenen Licht des Herbstes folgten immer kürzere, dunklere und kältere Tage, deren schmerzhafte Unumkehrbarkeit man fast körperlich spürte. Im März und April waren Schneeregen und Matsch auf den Straßen bereits die ersten Zeichen des nahenden Frühlings, während der einsetzende Schneeregen im Spätherbst nur das Versprechen von Tristesse und Düsterkeit in sich barg. Nein, kein einziger vernünftiger Mensch würde seinen Jahresurlaub im November nehmen.
Die dreiunddreißigjährige Anastasija Pawlowna Kamenskaja, Volljuristin, leitende Beamtin im Rang eines Majors bei der Kriminalpolizei, war ein äußerst vernunftbegabter, rationaler Mensch, und doch war es so gekommen, dass sie im November Urlaub machte.
Natürlich hatte sie mit ihrer freien Zeit etwas ganz anderes vorgehabt. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie in ein Sanatorium gefahren, ein sehr teures und komfortables, wo man auf höchstem Niveau betreut und behandelt wurde. Aber nach zwei Wochen hatte sie diesen Ort wieder verlassen, da dort, direkt im Sanatorium, ein Mord begangen worden war, woraufhin Nastja zuerst in schwierige, verwickelte Beziehungen zur regionalen Amtsstelle der Kripo geraten war und anschließend zur örtlichen Mafia. Nachdem der auf den ersten Blick wenig spektakuläre Mordfall aufgeklärt war, folgte diesem eine Serie derart monströser Verbrechen, dass Nastja den gastfreundlichen Ort eilig wieder verlassen hatte, ohne die Verhaftung der Haupttäter abzuwarten, mit denen sie, wie sich herausstellte, gut bekannt gewesen war. Die Stimmung war ihr gründlich verdorben, sie fühlte sich miserabel, kurz, ein höchst gelungener Novemberurlaub.
Nastja hatte das Theater verlassen und schlenderte langsam zur Metro, wobei ihr noch nicht klar war, wo sie hinfahren wollte, nach Hause oder zu ihrem Stiefvater. Schließlich entschied sie sich dafür, zur Arbeit zu fahren. Warum sie das tat, wusste sie selbst nicht.
Sie traf ihren Chef, Viktor Alexejewitsch Gordejew, tatsächlich in seinem Büro an. Wäre er nicht an seinem Platz gewesen, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Aber Viktor Alexejewitsch thronte hinter seinem Schreibtisch und nagte beherzt an einem Bügel seiner Brille, was bei ihm stets ein Anzeichen angestrengten Nachdenkens war.
»Viktor Alexejewitsch, ich möchte meinen Urlaub abbrechen«, sagte Nastja Kamenskaja ohne lange Vorreden. Nach ihrer Rückkehr aus dem Sanatorium hatte sie ihren Chef bereits gesehen, er wusste bestens Bescheid über alles, was dort vorgefallen war. Außerdem liebte Gordejew Nastja, er schätzte und verstand sie wie vielleicht kein anderer.
»Was ist los, Nastjenka? Geht es dir nicht gut?«, fragte er mitfühlend.
Nastja nickte wortlos.
»Gut, dann geh davon aus, dass du ab heute wieder im Dienst bist. Geh zu Mischa Dozenko und lass dir von ihm die Unterlagen zum Fall Jeremina geben. Und erinnere mich an den Wisch für die Personalabteilung wegen deines Urlaubs. Aber vergiss es nicht, sonst verlierst du deinen Resturlaub. Du wirst ihn bestimmt noch brauchen.«
Nastja holte die Unterlagen bei Dozenko ab, schloss sich in ihrem Büro ein und begann zu lesen. Das Verfahren war eingeleitet worden, nachdem man die Leiche einer jungen Frau gefunden hatte. Sie hatte keine Papiere bei sich gehabt und auch sonst nichts, was einen Hinweis auf ihre Identität hätte geben können. Der Tod durch Erwürgen
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