Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
hatte. Ich dachte mir, falls er darauf eingeht, wird Henry eher Verständnis für meine Zusage haben. Scott stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch und sah mich an, als könne er seinen Ohren nicht trauen. »Kommt nicht in Frage«, lautete seine Antwort.
»Okay, kein Problem«, sagte ich. Ich war der Meinung, damit sei unser Gespräch beendet und ich würde wie im Jahr zuvor für Henry Todd arbeiten. Doch da sagte Scott: »Überleg dir mein Angebot«, und stand auf, weil er wieder einen Termin im Ministerium für Touristik hatte. Schon im Gehen sagte er noch: »Frühstücken wir morgen wieder bei Mike’s. Um neun? Also, überleg’s dir.«
Am nächsten Morgen war Boukreev schon vor neun in Mike’s Breakfast, einem bei amerikanischen Bergsteigern sehr beliebten Lokal im Durbar-Marg-Bezirk, in dem man bei Kaffee und Pfannkuchen der heimatlichen Küche frönen kann. Boukreev suchte sich einen Tisch und legte sich auf Englisch zurecht, wie er Fischer beibringen wollte, daß er mit seinen Bedingungen einverstanden war. Boukreev wollte nicht auf den zusätzlichen 5000 Dollar bestehen, da er hoffte, die Beziehung zu Mountain Madness würde sich als ausbaufähig erweisen. Eine halbe Stunde verging, dann noch eine. Boukreev, der schon glaubte, daß Fischer seine Absicht geändert hätte und die Chance vertan sei, bestellte ein Frühstück.
Ich war mit meinem Frühstück fertig und hatte schon gezahlt, als ich Scott hereinkommen sah. In seiner Begleitung befand sich sein Agent, P. B. Thapa vom HimTreks, einem in Kathmandu ansässigen Unternehmen, das für die Logistik der Mountain-Madness-Expedition in Nepal zuständig war. Lächelnd wie immer trat Scott an meinen Tisch und sagte: »Guten Morgen.« Ehe ich antworten konnte, fuhr er fort: »Bist du bereit, mit mir auf den Everest zu gehen?« Ich ging auf seinen scherzhaften Ton ein und erwiderte: »Bist du bereit, meinen Preis zu bezahlen?« Sein Ja kam ohne das geringste Zögern.
Nachdem die Entscheidung gefallen war, besprachen P. B. Thapa, Fischer und Boukreev die Einzelheiten der Expeditionsplanung. Fischers größte Sorge war der Sauerstoff, den er für seine Teilnehmer bestellen mußte. Er hatte von Poisk, einer neuen russischen Firma in St. Petersburg gehört. Poisk lieferte leichte Titanbehälter, die mindestens ein halbes Kilo weniger wogen als die üblichen Drei-Liter-Kanister, und Fischer lag sehr daran, das Gewicht für seine Kunden möglichst niedrig zu halten. Da Boukreev Kontakte zur Herstellerfirma hatte, wurde vereinbart, daß er nach seiner Rückkehr vom Manaslu alles in die Wege leiten sollte.
Ein paar Tage später traf ich mich mit Scott im Hotel meiner georgischen Freunde und zeigte ihm einige Höhenzelte, die im Ural hergestellt und von den Georgiern bei der Besteigung des Dhaulagiri verwendet worden waren. Sie waren von guter Qualität und hatten sich bei großer Windstärke in Höhenlagen bewährt. Scott kaufte eines und sagte, ich solle noch eines nach seinen Angaben anfertigen lassen. Wie beim Sauerstoff sollte ich mich auch um diese Bestellung kümmern.
Hocherfreut über ihre Vereinbarung trennten sich Boukreev und Fischer. Zum ersten Mal seit Jahren rechnete sich Boukreev echte Chancen aus. Fischer wollte ihm auf seinen Vertrag einen Vorschuß geben, so daß er nicht Teile seiner Ausrüstung verkaufen mußte, um sich ein Ticket für den Heimflug leisten zu können. Auch Fischer konnte zufrieden sein. Er hatte sich für die Expedition und seine Kunden einen der stärksten Himalaja-Bergsteiger überhaupt gesichert – zu einem ganz bestimmten Zweck, wie er Freunden gegenüber später erklärte: »Wenn wir in die Patsche geraten, wird Anatoli da sein und uns vom Berg runterholen.«
Karen Dickinson blieb Fischers Begeisterung über Boukreevs Teilnahme deutlich in Erinnerung. »Ich hörte, wie Scott sagte: ›Einen besseren als Anatoli kann man sich für so eine Unternehmung gar nicht wünschen. Wer weiß schon, was alles passieren wird?‹«
3. Kapitel Vereinbarungen und Geschäfte
Da ich Scott für seine Einladung zur Everest-Expedition dankbar war, lag mir sehr daran, möglichst eng mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich dachte an meine Freunde, Bergsteiger wie ich, denen sich eine solche Chance nie bieten würde. Ihre Träume waren der wirtschaftlichen Misere nach dem Zusammenbruch der UdSSR zum Opfer gefallen, und viele würden nie wieder professionell bergsteigen können. Ich dachte an die große Zahl derer, die bei ihren
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