Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
um. Aber wozu hat man Freunde – deshalb versuchte ich alles, was in meiner Kraft stand. Ich riet ihm, du mußt total ausspannen, ein halbes Jahr, vielleicht sogar ein ganzes. Er hat sich ein Leben lang verausgabt und es bislang immer verkraftet, weil er körperlich unheimlich stark war.«
Lene wußte, daß Fischer seine persönlichen Grenzen erreicht hatte. Nach seiner Expedition zum Broad Peak hatte er ihr 1995 geschrieben, daß er zurückstecken müsse. »Ich muß lernen, demütig zu sein, weil ich mein Leben nicht am Berg lassen möchte.«
Sie war der Meinung, daß er vor allem an einem Imageproblem litt, weil er glaubte, dem Bild gerecht werden zu müssen, das sich alle von ihm gemacht hatten. »In Pakistan war ich richtig geschockt, als ich bemerkte, daß die Leute vom Versorgungstreck ihn nur als Helden sahen und den Menschen dahinter überhaupt nicht wahrnahmen. Es war eine so wirklichkeitsferne Heldenverehrung, daß ich mir dachte ›Ist das ein amerikanisches Symptom? Wie kann man nur so blind sein?‹ Ich glaube, auch die Leute von Mountain Madness – seine Geschäftspartner – haben ihn nicht gebremst und gesagt: ›Jetzt mal langsam, du mußt wieder Tritt fassen.‹ Man brauchte ihn, damit er Geld organisierte, und er hat mitgemacht. Deshalb ist er selber schuld und niemand anders. Er ist schließlich ein erwachsener Mensch.«
Am 6. Dezember hatten die Kasachen und ich, insgesamt zehn Mann, auf dem Manaslu eine Höhe von 6800 Meter erreicht und dort eine extrem kalte Nacht mit einer Außentemperatur von minus vierzig Grad Celsius verbracht. Am nächsten Tag kamen wir bis auf 7400 Meter und errichteten auf einer Plattform aus hartgepacktem Schnee Lager IV, unser höchstes, von dem aus wir zum Gipfel aufsteigen wollten. In jedem unserer zwei Vier-Mann-Zelte drängten sich fünf Expeditionsteilnehmer. In der Nacht tobte ein Sturm mit einer Geschwindigkeit von fast hundert Stundenkilometern. Ein Blick aufs Thermometer zeigte mir, daß die Temperatur kaum über minus zwanzig Grad Celsius stieg.
Am nächsten Morgen um vier Uhr begannen die Vorbereitungen zum Gipfelsturm, zu dem man gemeinsam aufbrechen wollte. In den engen Zelten konnten sich aber unmöglich alle gleichzeitig anziehen, so daß man sich schließlich dafür entschied, einer nach dem anderen zu gehen. Um sechs Uhr begannen die ersten ihren Aufstieg über einen sanft geneigten, mit hartem Schnee und Eis bedeckten Hang, der zum überhängenden Gipfelgrat führte. Zwischen zehn und elf Uhr dreißig erreichten acht der zehn Teilnehmer den Gipfel. Zwei weitere, Michael Mikhaelov und Demetri Grekov, waren unterhalb des Gipfels umgekehrt, da sich bei ihnen schon bald Ermüdungserscheinungen gezeigt hatten.
Bis vierzehn Uhr waren alle acht Teilnehmer, die es bis zum Gipfel geschafft hatten, wieder in Lager IV, wo Michael Mikhaelov und Demetri Grekov bereits warteten. Wir wärmten uns kurz auf und machten uns dann an den Abstieg. Unterwegs zu Lager III fiel mir auf, daß viele der Kameraden sich nur ganz langsam bewegten und sichtlich unter der Höhe und Kälte litten. Bis achtzehn Uhr hatten es acht in der Dunkelheit bis Lager III geschafft, doch irgendwo weiter oben mußte Mikhaelov und Grekov etwas zugestoßen sein. In Lager IV hatten sie einen guten Eindruck gemacht und waren bereit, mit uns abzusteigen, aber jetzt waren sie vermißt. Über Funk wurden wir vom Basislager informiert, was man von dort aus beobachtet hatte.
Kurz nach Beginn unseres Abstiegs hatte man durch Ferngläser und Teleobjektive die zwei Vermißten im Schnee auf einem Steilhang knapp unterhalb Lager IV gesichtet. Es sah so aus, als hätten sie ihre Kräfte falsch eingeschätzt und könnten nun nicht mehr weiter.
Kaum hatten wir die Nachricht erhalten, als Shafkat Gataullin, ein junger Kasache, und ich uns wieder an den Aufstieg machten, ohne uns Zeit zum Aufwärmen oder für ein heißes Getränk zu nehmen. Obwohl uns die Dunkelheit sehr behinderte, knipsten wir unsere Stirnlampen immer wieder aus, weil wir befürchteten, die Batterien könnten im kritischen Moment leer sein. Nach drei Stunden fanden wir schließlich die beiden auf dem Eis liegend. Einem von ihnen waren irgendwie die Steigeisen heruntergerutscht, und er hatte nicht mehr die Kraft gehabt, sie wieder an seinen Stiefeln zu befestigen. Ich stellte die beiden auf die Beine, machte sie an meinem Klettergürtel fest, und mit Gataullins Hilfe stiegen wir durch Nacht und Nebel ab, bei Temperaturen, die so
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