Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
tief waren wie in der Nacht vor unserem Gipfelsturm.
Knapp oberhalb von Lager III kamen ein paar kasachische Teammitglieder, die das Licht der Stirnlampen gesehen hatten, Boukreev und den anderen entgegen, um ihnen heißen Tee zu bringen. Vom Anblick der erleuchteten Zelte aufgemuntert, nahmen Mikhaelov und Grekov das Getränk in Empfang. Ein Augenblick der Ablenkung durch den Tee und die Nähe des Lagers genügten – schon verlor einer sein Gleichgewicht, kam auf dem Eis ins Rutschen und riß den zweiten und Boukreev über eine fünfzehn Meter hohe Eismauer über die Manasluflanke hinunter.
Ich wurde mit einem Ruck von meinem Eispickel losgerissen, den ich als Sicherung für die beiden eingerammt hatte. Die Rutschpartie über den Hang und der Zwanzig-Meter-Sturz über die Wand wurde von dem Seil gehalten, das ich verankert hatte, als wir rasteten, um unseren Tee zu trinken. Niemand wurde ernsthaft verletzt, aber ich hatte bei dem Sturz meine Handschuhe verloren. In den fünfzehn Minuten, die vergingen, bis wir unsere Zelte in Lager III erreichten, spürte ich, wie meine Hände immer mehr erstarrten. Glücklicherweise waren sie aber der Kälte nur kurz ausgesetzt, so daß ich keine bleibenden Schäden davontrug.
Später sollte Boukreev sagen: »Soviel Glück gibt’s gar nicht auf der Welt. Damals habe ich ein Extrastück abgekriegt.«
Nachdem er mit dem kasachischen Team – allesamt wohlbehalten und ohne Erfrierungen – in Kathmandu eingetroffen war, sah Boukreev bei P. B. Thapa von HimTreks, Fischers Agent, vorbei. In den Wochen von Boukreevs Manaslu-Expedition hatte Mountain Madness ihm etliche Briefe gefaxt. Fischer wollte, daß Boukreev schleunigst Poisk in St. Petersburg kontaktieren und Sauerstoff bestellen sollte. Außerdem sollte er bei den Herstellern im Ural das Zelt anfertigen lassen.
Ausgelaugt von den rasch aufeinanderfolgenden Besteigungen zweier Achttausender kehrte Boukreev zu einem kurzen Erholungsurlaub nach Kasachstan zurück, nicht zuletzt, weil er seine seit einem Jahr verwitwete Mutter wieder sehen wollte. Nach einer Neujahrsfeier mit Freunden reiste er nach Rußland, um das Geschäftliche zu erledigen.
Auf der Fahrt nach St. Petersburg, an einem grauen, frostigen Tag, kam Boukreev erst richtig zu Bewußtsein, was für ein Glück es für ihn bedeutete, daß er bei Fischer unterschrieben hatte. Er kannte die Redeweise, daß im Winter die Kasachen, Georgier, Ukrainer und andere »Fremde« an den Straßenecken Schischkebab über kleinen Feuern verkaufen mußten, während die Russen an den Hochöfen der Stahlindustrie arbeiteten. Obwohl er gebürtiger Russe war, identifizierte sich Boukreev stark mit den Kasachen seiner Wahlheimat; außerdem gehöre er als Hochalpinist ohnehin einer Minderheit an, pflegte er zu scherzen. Er war jedenfalls froh, daß er nicht auf der Straße stehen und ein Kohlenfeuerchen in Gang halten mußte.
Trotz aller Bemühungen hatte er bis zum 29. Januar noch immer keinen Sauerstoff auftreiben können, da Komplikationen aufgetaucht waren. Boukreevs Verhandlungen mit Poisk waren in eine Sackgasse geraten. In seinen Gesprächen mit Vertretern der Herstellerfirma erfuhr er, daß Henry Todd von Himalyan Guides, mit dem er 1995 den Everest bestiegen hatte, den Sauerstoffmarkt beherrschte. Todd, der sich das Vorverkaufsrecht unter der Bedingung gesichert hatte, als einziger Anbieter im Everest-Gebiet zu agieren, war damit praktisch zum Exklusivlieferanten von Poisk geworden. Boukreev war fassungslos, weil er es gewesen war, der Todd im Jahr zuvor bei Poisk eingeführt hatte.
Boukreev und Karen Dickinson, die sich bei Mountain Madness um alles kümmerte, während Fischer in Afrika seine Kilimandscharo-Expedition leitete, hatten nun ein Problem. Ende März sollten die Kunden, die für den Everest gebucht hatten, nach Kathmandu fliegen, und schon in der ersten Maiwoche wollte man zum Everest-Gipfel. Zum Klettern aber brauchte man zusätzlichen Sauerstoff. Und Mountain Madness hatte keinen.
Verstimmt wegen Todds Versuch, den Sauerstoffvorrat von Poisk aufzukaufen, schlug Boukreev vor, Mountain Madness solle sich an einen anderen Hersteller, nämlich Zvesda in Moskau, wenden. Er wußte, daß er dort einen besseren Preis bekommen würde als bei Todd.
In seinem Büro in Edinburgh erhielt Henry Todd einen Anruf von Poisk. »Henry, was ist los? Anatoli droht uns, er würde zu Zvesda gehen, wenn wir uns mit ihm nicht einigen.« Todds geriet in Rage. »Wenn man mich
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