Der gläserne Drache
Schwestern waren kaum voneinander zu unterscheiden. Gestalt, Haarfarbe, Augen – es schien, als sei die eine das Spiegelbild der anderen. Doch während bei Anina der Ausdruck der Augen sanft und ein wenig träumerisch war, blitzte in denen Tamiras ein geheimes Feuer, das auch die schweren, langbewimperten Lider nicht auslöschen konnten. Dem forschenden Blick des Fremden entging nicht die geringste Kleinigkeit, die die Zwillinge voneinander unterschied.
Wieder flog ein befriedigtes Lächeln über seine Züge, dann sagte er: „Die jungen Damen mögen mir meine Unhöflichkeit verzeihen, ich habe mich nicht einmal vorgestellt.
Mein Name ist Romando. Ich komme aus der Hauptstadt und ich bin ein Gelehrter, obwohl man das bei meinem jetzigen Aufzug wohl kaum vermuten würde.“ Er grinste ein wenig schief und fuhr dann fort: „Aber der lange Talar der Magister ist zum Reiten doch recht unbequem, und außerdem schützt er nicht vor dem Überfall herumstreifenden Gesindels.“
Er sah an sich hinunter. „Da sind solide Reitkleidung, ein gutes Schwert und ein scharfer Dolch doch weit nützlicher, nicht wahr? Zumal ich trotz meiner Profession durchaus mit diesen Waffen umgehen kann.
Aber lassen wir es mit den Erklärungen zunächst dabei bewenden, denn ich habe keine Lust, alles noch einmal zu erzählen, wenn euer Vater zurückgekehrt ist.
Ich gehe jetzt hinaus und tränke mein Pferd, da ihr beiden ja angelegentlich mit eurer Arbeit beschäftigt und an einer Unterhaltung eh‘ nicht interessiert zu sein scheint. Solltet ihr mich suchen, findet ihr mich auf der Bank unter der großen Buche.“
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sprang Tamira auf und näherte sich dem Fenster. Vorsichtig spähte sie hinaus. Romando stand bei seinem Pferd und lockerte ihm den Sattelgurt. Dann führte er das Tier an den Wassertrog. Als es sich satt getrunken hatte, ging er zu dem schattigen Rasenplatz hinüber, wo unter der großen Buche eine Bank stand, von der aus man weit hinaus in das sanft geschwungene Tal sehen konnte.
Er ließ sich nieder und streckte seine langen , dünnen Beine aus. Sein Pferd begann, das saftige Gras zu fressen. Der Mann schien zu wissen, dass das Tier sich nicht entfernen würde, denn er hatte es nicht angebunden.
Als Tamira sah, dass Romando weit genug vom Haus entfernt war, sagte sie zu ihrer Schwester:
„Was für ein seltsamer Mensch! Was mag ein Gelehrter aus der Stadt ausgerechnet mit unserem Vater zu besprechen haben? Vater war mindestens fünf Jahre nicht mehr in der Stadt, denn seit der Stoffhändler von Dorf zu Dorf reist, um im Frühjahr die Webwaren aufzukaufen, erspart sich der Vater den langen beschwerlichen Weg. Was also mag dieser Romando wollen?“
Anina lächelte. „Natürlich kann es meine stets neugierige Schwester nicht erwarten, alles zu erfahren! Vater wird wohl in Kürze zurück sein, da er mit den Buben ja nur Reisig zum Anfeuern holen wollte. Dann werden wir schon erfahren, was der Fremde hier will.
Aber du hast Recht! Auch mir kommt das seltsam vor, und dieser Mann ist mir nicht ganz geheuer. Er sieht wirklich nicht so aus, wie ich mir einen Gelehrten vorstelle. Ich dachte immer, die hätten lange weiße Bärte und seien alt, doch dieser Mann ist nicht älter als unser Vater, und der kurze schwarze Bart um Mund und Kinn gibt im eher ein düsteres denn ein weises Aussehen.
Aber komm, lass uns das Essen richten! Die Knaben werden hungrig wie Wölfe sein“, sie lächelte belustigt, „was ja nichts Ungewöhnliches ist!“
Tamira seufzte. „Ja, das ist richtig, und ich frage mich manchmal, wie wir sie noch satt bekommen sollen, wenn sie noch weiter in die Höhe schießen. Schon jetzt reichen die Erträge der Felder und des Gemüsegartens kaum für uns alle aus, und der Stoffhändler hat im Frühjahr so schlechte Preise für unsere Tuche gezahlt, dass ich mich frage, wie wir mit dem bisschen Geld über den Winter kommen sollen.“
Sie holte Brot und Schmalz aus dem Vorratsschrank, während Anina irdene Becher und sechs weißgescheuerte Holzschalen auf dem Tisch verteilte. Der sechste Napf, den sie nun für den Gast aufdeckte, hatte der Mutter gehört, die bei der Geburt des kleinen Ryco gestorben war.
Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück, als die Mutter noch gelebt hatte. Wie fröhlich war die Familie trotz der schweren Arbeit gewesen, denn die Mutter hatte es immer verstanden, ihrem geliebten Mann und ihren Kindern mit Liedern
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