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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinald Koch
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uns keineswegs unter der Erde befinden. – Wir stehen direkt unter den obersten Zinnen der Festung. Der Gang verlief offensichtlich in der Mauer. Wie dick muss diese Mauer sein!
    »Nun, was sagst du jetzt?« – Interessiert hat der Zenturio meinen Gesichtsausdruck beobachtet.
    Sprachlos breite ich die Arme aus. Unter mir die weiße Stadt, wie Schaum des Meeres an der weiten blauen Bucht. Nicht nur Zaina sehe ich zum ersten Mal, auch die Weite des Meeres, das sich fern zum Horizont dehnt und dort am Himmel hinaufsteigt.
    Tief unten bewegen sich die Menschen wie winzige Insekten in den Straßen. Von der Landseite her schwebt eine Schwadron Fragonreiter in niedrigem Gleitflug auf die Festung zu. Wie ich diese Männer beneide, die sich auf ihren Tieren in die Luft schwingen können!
    »Sieh, dort am Strand!« unterbricht Altar tha Barga mein Staunen und deutet auf drei golden gleißende Türme, die wie ins Riesenhafte vergrößerte Bolzen einer Armbrust aussehen.
    »Das sind die Großen Wagen der Adaporianer. – Es wird Krieg geben!«
    Ich verstehe nicht, was er damit meint, denn jeder auf Ne Par weiß, dass einmal im Jahr die Adaporianer in ihren Großen Wagen kommen, um Beerenessenz zu kaufen. Das ist schon immer so gewesen, und weshalb sollte es darum Krieg geben? – Doch tha Barga zeigt auf die Menschenmassen, die durch das Labyrinth der Straßen fließen, und sagt:
    »Der Fürst hat angeordnet, die Stadt zu evakuieren. Bis morgen früh darf kein Bürger oder Fremder mehr innerhalb der Mauern sein!«
    Und wie er das sagt, ordnet sich auch für meine ungeübten Augen die Bewegung der Menschen: In ununterbrochenem Zug streben sie den Toren der Stadt zu, und die Ausfallstraßen jenseits der Mauer sind mit Menschen, Wagen und Sänften verstopft, und sie alle entfernen sich von der Stadt.
    »Warum lässt der Fürst die Stadt räumen?« – Ich habe geglaubt, Zaina sei der sicherste Ort, den es auf Ne Par gibt. Noch nie hat einer der wandernden Stämme Zaina erobern können, und wenn ich auf die Mauern der Stadt und der Festung hinabblicke, kann ich mir auch nicht vorstellen, dass die Großen Wagen und die Männer von Adapor mächtig genug sein werden, diesen hoch getürmten Quadern etwas anzuhaben.
    »Auch ich kann dir darauf keine Antwort geben«, entgegnet mir tha Barga schroff. Er ist Soldat; es scheint seine Ehre zu kränken, dass die Stadt kampflos geräumt wird.
    »Gehen wir! Es wird spät!«
    Über eine schmale, in der Mauer ausgesparte Treppe führt uns der Soldat in einen Innenhof der Festung hinab.
    »Die Offiziersmesse ist dort drüben!« meldet der Soldat, dann salutiert er und wird von tha Barga entlassen.
    Wir gehen in die angezeigte Richtung und betreten einen großen Raum, der von hektischem Treiben erfüllt ist.
    An einem eleganten Marmortisch sitzen mehrere Offiziere in Feldsesseln, die mit teuren Lurpelzen gepolstert sind, und trinken in großen Zügen den wachsgelben Zernschnaps. Sie lachen und fluchen laut durcheinander und kümmern sich nicht im Mindesten darum, dass sie ihre Uniformen mit Schnaps beflecken, der in großen Lachen verschüttet auf dem Tisch steht.
    »So sieht das Ende einer Festung aus«, sagt Altär tha Barga grimmig, »… die Herren Offiziere besaufen sich!«
    Wir drängen uns an schwer bepackten Ordonnanzen vorbei, Burschen schleppen Gepäck nach draußen, und die Aufwartefrauen laufen wie aufgescheuchte Hühner durcheinander. Altär hält eins der Mädchen am Arm fest und zieht sie zu einem freien Tisch. Wir setzen uns, und der Zenturio bestellt Essen und Trinken für uns beide.
    Ich bin zu benommen und verwirrt durch die Ereignisse der letzten Stunde, als dass ich Hunger haben könnte; aber Altär zwingt mich, den Brei hinunterzuschlucken, den das Mädchen bringt. Es ist ein scheußliches zähflüssiges Zeug, voller Klumpen und mit einem bitteren, verbrannten Nachgeschmack. Gegen das Getränk ist nichts einzuwenden, wir bekommen klares, kühles Wasser, denn alles andere sei schon von den Offizieren getrunken worden, entschuldigt sich das Mädchen.
    Den Rest des Wassers benutze ich, um mir das Gesicht und die Hände zu waschen. Es liegt etwas Tröstliches und Ermunterndes in einer solch kultischen Handlung, auch wenn sie sonst keinen praktischen Sinn haben mag.
    Altär hat mir interessiert zugesehen. Plötzlich fragt er: »Bist du fromm, Tolt der Nägar?« Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken.
    »Wegen der Waschung? Ich bin immerhin Priester«, entgegne ich ausweichend.

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