Der gläserne Wald
scheint bisher davon gewusst zu haben.«
Ich verstehe nicht, was mit mir geschehen ist. – Um mich ist Dunkelheit …
Wo bin ich? – Irgendwo in der Ferne tropft Wasser. Ich lehne an einer senkrechten, kalten Steinwand. Eine feste Wand, an die ich mich halten kann. Vor mir öffnet sich ein Abgrund, um mich zu verschlingen.
Ich lausche in die Tiefe, unfähig, mich zu regen. – Geräusche -Schritte -.
»Hoffentlich ist der Kleine inzwischen wieder bei sich!« sagt eine tiefe, dumpfe Stimme. – Metallene Gegenstände schlagen aufeinander. Ich lehne mich noch fester gegen die Wand. Es würgt mich in der Kehle, dass ich jetzt im letzten Augenblick, wo Rettung naht – ich hör’ es ja – noch stürze.
Da, ein Lichtstreifen! Geblendet muss ich die Augen schließen. Grelles Licht umflutet mich und schmerzt durch die geschlossenen Augenlider.
»Da sitzt er wie ein Häufchen Elend!« sagt der, den ich vorhin gehört habe. – Ich versuche zu blinzeln, mitten über den Abgrund schreiten zwei Gestalten auf mich zu. Zwei Männer, einer trägt ein Licht, eine Fackel. Beißender Rauch von Harz kitzelt in der Nase.
Meine Augen gewöhnen sich an die Helligkeit. Gleich schaue ich in den Abgrund vor mir, aber – da ist kein Abgrund – Steinboden. Ich sitze in einer Zelle.
»Bist du der junge Nägar-Priester?« fragt mich der zweite Mann, der bisher noch nichts gesagt hat. Er ist ein Soldat und hält die Fackel. – Immer noch blendet mich das Licht ein wenig. – Ich nicke zustimmend.
»Komm mit!« fordert mich der erste auf. »Der Fürst will dich sehen.«
»Der Fürst?« stoße ich hervor. – Mir ist sonderbar leicht im Kopf, und ich merke, dass ich beim Aufstehen schwanke.
»Gewiss, Tolt, der Nägar! – Ich bin übrigens Zenturio Altar tha Barga. – Der Fürst will dich noch heute Abend sehen.
Du hast viel Glück, mein Lieber! Komm mit!«
Der Zenturio wendet sich um und verlässt die Zelle. Als der Soldat sieht, dass ich schwanke, stolpere, nimmt er die Fackel in die linke Hand und stützt mich.
Wir treten in einen langen unterirdischen Gang. Die Wände aus großen, buckligen Steinblöcken schimmern feucht im Licht der Fackel. Wir kommen an finsteren Nischen vorbei, die Flammen zucken über die schweren Riegel und Beschläge der Türen. Dies müssen die berüchtigten Verliese der Festung von Zaina sein. Es heißt, dort gebe es meilenlange Gänge, die bis tief unter die Erde führen und, wer hier eingekerkert werde, dürfe nie wieder das Licht der Sonne sehen.
Unsere Schritte hallen durch Finsternis, die vor uns und hinter uns den Gang erfüllt, sonst kein Geräusch, außer dem Klatschen von Wassertropfen auf Stein. Entsetzliche Stille herrscht hinter den hölzernen Türen, an denen wir vorbeigehen.
Wenn mein Vater mit Besuchern über die Verliese von Zaina gesprochen hat, habe ich mir die Schreie und das verzweifelte Ächzen der Gefangenen ausgemalt, die da ohne Licht und Wärme verfaulen müssen.
Ich frage den Soldaten, der mich noch immer stützt, obgleich es mir schon viel besser geht, ob hinter jeder dieser Türen Gefangene eingeschlossen seien. Er lacht gutmütig, dann schüttelt er den Kopf: »Nein, Priesterchen! – Früher mag das einmal so gewesen sein, aber seitdem unser gnädiger Fürst Ämar die Stadt regiert, haben wir hier kaum noch Gefangene. – Nur manchmal einen wie dich, bei dem man nicht weiß, ob er vor ein Tempelgericht gebracht werden soll oder vor die Richter des Fürsten.«
Der Zenturio hat unserem Gespräch zugehört und wendet sich zu mir um.
»Nun, Tolt, der Nägar, geht es dir wieder besser? – Du wirst gleich etwas zu essen bekommen, damit du nicht hungrig vor den Fürsten treten musst«, und versonnen fügt er hinzu: »Wer weiß, was auf dich zukommt, wenn der Fürst dich jetzt selber sehen will! – Große und sonderbare Dinge sind im Gange.«
Plötzlich bleibt Altar tha Barga vor einer Tür stehen, die genauso aussieht wie die anderen, an denen wir vorbeigekommen sind.
»Das ist sie doch, nicht wahr?« fragt er den Soldaten. – Der nickt und lässt mich los, um dem Zenturio zu öffnen.
»Du wirst dich gleich sehr wundern!« sagt lächelnd der Zenturio zu mir. »Schließ die Augen!«
Ich folge seiner Anweisung, obgleich ich mir nicht vorstellen kann, wozu. – Knarrend öffnet sich die Tür, und eine Flut grellen Lichtes stürzt herein und blendet mich. Diesmal kann ich mich jedoch schnell an die Helligkeit gewöhnen, und zu meinem Erstaunen sehe ich, dass wir
Weitere Kostenlose Bücher