Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
dich abzuholen?«
»Gütiger Himmel, nein, warum um alles in der Welt sollte ich?«
Sie sahen einander an. Amber merkte nicht, wie sie ihren Stuhl zurückschob und aufstand, um zu ihm zu gehen, doch sie hörte die Dringlichkeit in Jays Stimme, als er ihren Namen sagte.
»Jay, ich …«
Das schrille Läuten des Telefons ließ sie beide zusammenfahren.
»Ich gehe besser ran«, sagte Amber. »Die anderen sind inzwischen alle ein wenig taub, sogar Großmutter, obwohl sie es niemals zugeben würde.«
Zu Ambers Überraschung war die Anruferin Cassandra, die fragte, ob sie Neuigkeiten von Jay hätten.
»Ja, in der Tat. Er ist hier«, antwortete Amber, hielt Jay den Hörer hin und sagte: »Cassandra.«
Während er mit seiner Cousine sprach, stand Amber am Bibliotheksfenster und versuchte, ihre konfusen Gedanken zu ordnen. Jay und Bunty hatten nichts miteinander. Jay war nicht in Bunty verliebt. Jay …
»Ich muss rüber nach Fitton Hall.«
Amber sah ihn an.
»Mein Großvater. Es geht ihm anscheinend nicht gut. Dr. Brookes ist bei ihm.«
»Ich fahre dich«, bot Amber an.
»Amber?«
»Ja?«
»Ich weiß, dass das nicht der richtige Zeitpunkt ist, aber ich muss es dir sagen. Ich habe viel an dich und an uns gedacht, als … als ich befürchten musste, ich käme womöglich nicht zurück.«
»Ich habe auch viel an dich gedacht.«
Irgendwie berührten sich ihre Hände, Fingerspitzen drückten gegen Fingerspitzen. Ambers Herz pochte. Sie konnte kaum atmen, als wäre plötzlich kein Sauerstoff mehr in der Luft.
Dann lag sie in seinen Armen, atmete seinen geliebten Duft ein, klammerte sich an ihn und küsste ihn so leidenschaftlich, wie er sie küsste, hungrig und gierig, als gäbe es nur das Hier und Jetzt und nichts und niemanden sonst.
Es war Jay, der sich zuerst löste, sie ein Stück von sich weghielt, während sie von der Macht ihrer Empfindungen zitterte.
»Du musst nach Fitton Hall«, erinnerte sie ihn.
»Ja.«
Keiner rührte sich.
»Ich habe deine Karte benutzt.«
»Ehrlich?«
»Sie hat mir das Leben gerettet und mir Hoffnung gegeben und etwas, wofür es sich zu überleben lohnte, weil sie von dir war. Ich liebe dich, Amber.«
»Und ich liebe dich.«
Es war die Wahrheit.
Keiner von beiden sagte etwas, als Amber Jay nach Fitton Hall fuhr, bis auf kurze Bemerkungen über das Gut und die Fabrik, vertraute Kurzschrift zwischen ihnen, die es überflüssig machte, langatmige Erklärungen abzugeben. Sie verstanden einander so gut.
»Ich fahre jetzt nach Hause«, sagte Amber zu Jay, als sie ihn abgesetzt hatte. »Ruf an, wenn du zurückkommen willst.«
»Also, ich weiß nicht, warum um alles in der Welt Jay es so eilig hatte, nach Fitton Hall zu kommen, bloß um Barrant zu sehen«, sagte Blanche gereizt.
Sie war nicht erfreut gewesen, als sie erfahren hatte, wohin er gefahren war.
»Seinem Großvater geht es nicht gut, Großmutter«, erinnerte Amber sie ruhig. »Natürlich will er ihn sehen.«
»Also, ich wüsste nicht, warum. Barrant hatte nie viel für ihn übrig. Was hat Cassandra denn genau gesagt?«
»Sie hat gesagt, dass sie nach Dr. Brookes geschickt hat.«
»Sie regt sich unnötig auf. Barrant wird uns noch alle überleben, denk an meine Worte.«
Amber war den ganzen Tag in der Nähe des Hauses geblieben und hatte auf Jays Anruf gewartet, und als er bis zehn Uhr abends noch nicht angerufen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass er wohl über Nacht in Fitton Hall bleiben würde.
Sie wollte gerade für die Nacht abschließen, als die Hintertür aufging und Jay hereinkam.
»Du hättest anrufen sollen«, sagte sie, doch als sie ihn richtig ansah, wusste sie Bescheid. »Dein Großvater …«
»Er ist tot. Es war sehr friedlich, er war bereit zu gehen, ja, ich glaube, er wollte gehen. Dr. Brookes hat gemeint, er hätte noch so lange gewartet, bis ich wieder da bin. Ich war bis zum Schluss bei ihm. Nur wir beide.« Jay zog einen Stuhl unter dem Tisch heraus und ließ sich daraufplumpsen. »Er hat mir eine Nachricht für deine Großmutter aufgetragen.«
»Was?«
»Sie haben sich geliebt, Amber, das hat er mir erzählt. Zumindest war sie in ihn verliebt.Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist ihm erst später klar geworden, was er für sie empfand. Aber da war es zu spät, weil sie beide mit anderen Partnern verheiratet waren.«
»Sie hat immer behauptet, sie hasse ihn, aber das ist wieder typisch für sie. Oh, wie schrecklich, Jay, so lange in so viel Bitterkeit und Bedauern gelebt zu
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