Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
wurden und dass diese Evakuierung an dem Tag begonnen hatte, da das britische Volk für ihre Rettung und ihre Sicherheit gebetet hatte.
Amber und Blanche hatten die Zeitungsberichte ein ums andere Mal gelesen, alle drängten sich um den Küchentisch, Tränen wurden vergossen, und es wurde immer wieder nach Luft geschnappt, während Amber die Berichte über die Evakuierung vorlas.
»Es ist noch nicht vorbei, und wir dürfen nicht vergessen, dass es eine Niederlage ist und kein Sieg«, verkündete Blanche scharf.
»Eine Niederlage im Sinne der Kriegsführung«, sagte Amber emotional, »aber ein großer Sieg für das menschliche Bemühen und den menschlichen Geist, Großmutter.«
»Hier steht, dass das gute Wetter und die ruhige See das ihre dazu beigetragen haben, unsere Männer sicher nach Hause zu bringen«, erklärte die Köchin und fügte gefühlvoll hinzu: »Es ist, als hätte Gott die Hand über den Kanal gehalten, um ihn zu beruhigen.«
Nach der ersten Euphorie kam für Amber jedoch die entmutigende Erkenntnis, dass nicht alle Männer nach Hause kommen würden, und danach die Angst und die Furcht, Jay könnte nicht unter ihnen sein.
Die Tage – einer, dann noch einer, und dann noch zwei – bis zum 5. Juni schleppten sich dahin, geschäftig und doch leer, weil die sehnlich erwartete Nachricht ausblieb. Die Zeitungen und das Radio ließen sich wortreich über die Evakuierung und den Triumph in letzter Minute aus.
Weitere kleine Schiffe waren dem Aufruf gefolgt, sich der Armada von Schiffen und Mannschaften anzuschließen, die die Fahrt über den Kanal wagten, um die wartenden Männer zurückzubringen. In der Luft kämpfte die Royal Air Force heftig mit der Luftwaffe, um die deutschen Flugzeuge daran zu hindern, die hilflosen Männer im Tiefflug anzugreifen, die geduldig an Land und im Meer warteten …
Jeder, mit dem Amber sprach, hatte aus zweiter Hand Geschichten über wunderbare Heldentaten zu erzählen, und manche auch schreckliche Geschichten über furchtbare Tragödien und Verluste.
»… und Mrs Lewis in der Post hat gesagt, es kommen sehr viele Postkarten von Soldaten, in denen steht, dass sie in Sicherheit sind. Ich habe gehört, der Women’s Voluntary Service gibt sie aus, wenn die Soldaten von Bord kommen. Vera Dawson hat erfahren, dass ihr Enkelsohn in Sicherheit ist, und es kommen etliche Burschen nach Macclesfield auf Urlaub, von denen ihre Familien schon dachten, sie würden sie nie wiedersehen.«
Amber versuchte, sich das Herz nicht so schwer werden zu lassen, als sie der Köchin bei der Aufzählung guter Nachrichten zuhörte.
Es war inzwischen vier Tage her, seit die Nachricht über die Evakuierung aus Dünkirchen verbreitet worden war, und sie hatten immer noch nichts von Jay gehört.
»Ich hoffe, es geht ihm gut, nicht nur um seinetwillen, sondern auch wegen seiner zwei Mädchen«, hatte Maurice erst am Morgen zu Amber gesagt, als sie zur Fabrik gegangen war, um die Forderung der Regierung nach Steigerung der Fallschirmproduktion zu besprechen, während sie zugleich ankündigte, bei Rohseide werde es Versorgungsengpässe geben.
»Was zum Teufel erwarten sie denn, woraus wir die verdammten Dinger fertigen sollen?«, hatte Maurice protestiert. »Aus Luft?«
»Wir müssen mit dem Beschaffungsministerium sprechen«, hatte Amber geantwortet. »Ich fahre mit dem Fahrrad heute Nachmittag zur Kontrollstelle und schaue, was sie zu sagen haben.«
Was sie zu sagen hatten, war, dass sie ihr Möglichstes taten, um einen steten Zufluss von Rohseide zu gewährleisten und neue Zulieferer auszumachen – was natürlich gar nichts hieß.
»Wir können die Fabrik nicht vierundzwanzig Stunden am Tag produzieren lassen, wie man uns vorgeschlagen hat, wenn wir nicht genug Rohmaterial haben, um die Fallschirme zu produzieren«, hatte Amber erklärt. »Im Augenblick haben wir noch genug für zwei Monate, wenn wir normale Schichten arbeiten, und für einen, wenn wir rund um die Uhr produzieren.«
Der Mann vom Ministerium war mitfühlend, aber unerschütterlich gewesen. Mehr als das, was er ihr schon gesagt hatte, konnte er ihr nicht mitteilen.
Nachdem sie die Dienststelle des Ministeriums verlassen hatte, war sie zum Bahnhof geradelt, um den anderen Freiwilligen vom Women’s Voluntary Service zu helfen, die Tee an die geretteten Soldaten ausschenkten, die auf einen kurzen Urlaub nach Hause kamen, bevor sie zu ihren Einheiten zurückkehren mussten.
So viele müde, niedergeschlagene junge Männer
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