Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Frankreich – war es nicht auch schon ein Gebet, hier und jetzt an sie zu denken und Gott um Schutz für sie zu bitten?
Ein Bild von Jay entstand hinter ihren geschlossenen Augenlidern: Jay und viele andere Männer wie er. Bitte, lieber Gott, pass auf sie auf.
Die Mädchen waren im Bett, und nachdem die Erwachsenen sich in ängstlichem Schweigen die Neun-Uhr-Nachrichten angehört hatten, hatte ihre Großmutter sich überreden lassen, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen und sich auszuruhen. Sie hatten nichts Neues erfahren, darin waren sie sich hinterher einig gewesen und hatten das Gefühl gehabt, etwas Entsetzliches werde ihnen absichtlich vorenthalten.
Amber hatte sich um den Abwasch vom Abendessen gekümmert und den Tisch zum Frühstück gedeckt, und dann war sie mit Bruno ein letztes Mal hinausgegangen.Obwohl es jetzt elf Uhr war, hatte sie immer noch keine Lust, ins Bett zu gehen.
Sie betrat die Bibliothek und überlegte geistesabwesend, wie Mr Melrose wohl bei seiner Jagd nach einem potenziellen Erben für die Herzogswürde vorankam.Vielleicht war sie zu sentimental, aber sie hoffte, er fand jemanden. Auch wenn er es zu verbergen versucht hatte, war Robert doch stolz gewesen auf seine Abstammung und ihre Geschichte. Sie musste sich nur in Erinnerung rufen, welche Freude es ihm bereitet hatte, Luc alles beizubringen, was er wissen musste, um in seine Fußstapfen zu treten.
Sie studierte die Bücherregale und überlegte, ob es ihr beim Einschlafen helfen würde, wenn sie etwas zu lesen mitnähme, da fiel ihr Blick auf eine Ausgabe von Shakespeares Julius Caesar .
Ihre Finger zitterten leicht, als sie das Buch herauszog und auf den Tisch legte. Das schwache Licht einer einzelnen Glühbirne, auf die sie sich hier beschränkten, fiel auf die goldgeprägten Buchstaben auf dem abgewetzten Leder.
Viele der Bücher in der Bibliothek hatten dem Vorbesitzer gehört, so auch dieses.
Im Buchdeckel stand ein Name geschrieben: »Charles Vaughan Percy, dritter Earl Sarisfield.«
Wer war er gewesen, und wie war sein Buch hierhergekommen? Wahrscheinlich durch Erbschaft. Amber hatte im Laufe ihrer Ehe erfahren, wie gerne die Aristokratie die Errungenschaften ihrer Vorfahren hortete und über Generationen weitergab.
Sie brauchte nicht lange, um die Stelle zu finden, die sie interessierte. Andere Herzen und Geister hatten offensichtlich dasselbe Bedürfnis verspürt wie sie jetzt, denn das Buch fiel fast von selbst an der richtigen Stelle auseinander.
Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt:
Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück;
Versäumt man sie, so muss die ganze Reise
Des Lebens sich durch Not und Klippen winden.
Wir sind nun flott auf solcher hohen See
Und müssen, wenn der Strom uns hebt, ihn nutzen;
Wo nicht, verlieren wir des Zufalls Gunst.
Amber nahm die Worte schweigend in sich auf und las sie dann laut und voller Entschlossenheit, und dabei spürte sie, wie ihr Herz sich mit Kraft füllte und mit ihrer Liebe. Diese Kraft und diese Liebe sollten von ihr auf die Männer übergehen, die sie jetzt so dringend brauchten.
Bilder von ihren Eltern, von Robert und von Luc zogen ihr durch den Sinn, und es kam ihr irgendwie vor, als spürte sie sie um sich, als stünde sie an einem Ufer und sie stünden neben ihr und sprächen ihr Mut zu, den nächsten Schritt zu wagen.
Zu Jay? Unerklärlicherweise, doch zu ihrer Freude – o ja, zu ihrer großen, großen Freude – erkannte Amber, dass die Schuld gegenüber Robert und Luc, die ihr so schwer auf der Seele gelegen hatte, sie nicht mehr belastete.Tränen, nicht die brennenden, scharfen Tränen der Bitterkeit, der Trauer und der Selbstvorwürfe, sondern die sanften, heilenden Tränen der Erkenntnis, der Einsicht und der Liebe, rannen ihr über das Gesicht. Sie wischte sie weg, klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. In diesem Augenblick schlug die Standuhr auf der Treppe Mitternacht. Sie erschrak. Es kam ihr vor, als wäre sie erst vor wenigen Minuten in die Bibliothek gegangen, nicht vor fast einer Stunde.
»Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt …« , und sicher kam damit auch eine Zeit, und irgendwo tief in ihrem Innern wusste Amber, dass sie ihre Flut wahrgenommen hatte.
Es stimmte. Nach angespannten Stunden und Tagen voller Gerüchte und Angst, Rätselraten und Hoffnung wurde endlich offiziell die Nachricht verbreitet, dass die Männer des britischen Expeditionskorps an der Küste von Dünkirchen evakuiert
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