Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
serviert worden und ebenso der Champagner.
Das Haus war zweihundert Jahre älter als sie, und im Raum machte sich eine leicht erwartungsvolle Stille breit – viele Feste waren bereits in diesem Raum begangen worden, öffentliche wie sehr private. Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen, das einer ganz persönlichen Erinnerung galt. Fast spürte sie das warme Lachen des Mannes, der diese Erinnerung mit ihr erschaffen hatte.
Ihr Blick wanderte zu dem Gemälde, das anlässlich ihres Geburtstages eben erst aufgehängt worden war.
Die Tochter des Seidenhändlers war so viele Jahrzehnte lang an exquisite Kunstgalerien verliehen worden, dass es wiederzusehen fast war, als heiße sie einen alten Freund zu Hause willkommen. Doch obwohl sie die Tochter eines Seidenhändlers war, sah die junge Frau auf dem Gemälde sie nicht an. Sie war zu sehr damit beschäftigt, den vor ihr liegenden Seidenballen begehrlich zu mustern.
Seide. Als junge Frau hatte sie geglaubt, sie wüsste alles, was es zu wissen gab, sowohl über den Stoff als auch über das Leben, doch ihr Begreifen hatte die Oberfläche nicht durchdrungen. Damals hatte sie nicht gewusst, was darunter lag, hatte keine Ahnung gehabt von den Schuss- und Kettfäden des dicht gewebten Musters, das der Stoff menschlichen Lebens war.
In den Schatten drängten sich jene, die sie geliebt hatte, deren Gegenwart nur sie allein spüren konnte.
Die Ehre, den Toast auszubringen, fiel dem Urenkelkind zu, dessen Geburtstag auf denselben Tag fiel wie ihrer und das heute siebzehn Jahre alt wurde.
Siebzehn.
Der Raum verschwamm kurz vor ihren Augen, als sie einen quälenden Stich im Herzen verspürte. Es gab Jahre, die aufgrund der beißenden Schärfe ihres Schmerzes für immer in ihre Erinnerung eingebrannt waren. Jenes, das mit ihrem eigenen siebzehnten Geburtstag begonnen hatte, war eines davon. Ihre arthritischen Hände, die sie unter einer der eigens für sie handgefertigten wattierten Seidendecken, die sie überallhin begleiteten, im Schoß gefaltet hatte, zitterten. Sie schaute zum Fenster, ihr Blick so scharf und klar wie ihre Erinnerungen.
Erster Teil
1
Cheshire, Ende November 1929
In nicht einmal einer Stunde würde Amber nach unten ins Arbeitszimmer ihrer Großmutter gehen und dort das ganz besondere eburtstagsgeschenk in Empfang nehmen, das ihre Großmutter ihr versprochen hatte. Siebzehn! Nun war sie bald eine Frau. Endlich erwachsen.
Vor fieberhafter Vorfreude tänzelte Amber mehr durch ihr Zimmer, als dass sie ging. Sie wusste natürlich, worin dieses »ganz besondere Geschenk« bestand.Wie hätte sie es auch nicht wissen können?
Sie würde zur Kunstakademie gehen – um dort die Ausbildung anzufangen, die es ihr letztendlich ermöglichen würde, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Seit sie zurückdenken konnte, war dies ihr Herzenswunsch, und nun würde ihr großer Traum endlich wahr werden. Und es war nicht nur ihr Traum.
Beim Frühstück hatte sie Karten von ihrer Großmutter und von ihrem Cousin Greg erhalten, dann von Jay, dem Gutsverwalter ihrer Großmutter, den Dienstboten, vom Werksdirektor der im Familienbesitz befindlichen Seidenfabrik in Macclesfield und von Beth, ihrer besten Freundin aus Schulzeiten. Doch von den beiden Menschen, die sie auf dieser Welt am meisten liebte, hatte sie keine Karte bekommen, genau wie in den vier Jahren zuvor – ihren Eltern.
Ihre Gefühle waren an diesem Tag so stark und stürmisch wie der Herbstwind, ihre Stimmung wechselte ebenso rasch zwischen freudiger Erregung und Kummer wie der Novemberhimmel draußen vor ihrem Schlafzimmerfenster zwischen winterlichem Grau und herbstlichem Blau.
Auf dem Schreibtisch, der einmal ihrer Mutter gehört hatte und in dem Amber nun ihre Skizzenbücher aufbewahrte, stand ein Foto von ihr und ihren Eltern, das an ihrem zwölften Geburtstag aufgenommen worden war, nur drei Wochen vor dem Tod der beiden. Sie alle lächelten auf dem Bild, und ihr Vater hatte den Arm um ihre Mutter gelegt. Ihre Mutter sah ihn bewundernd an, und er erwiderte den Blick. Amber stand vor ihnen, der Arm ihrer Mutter war schützend um sie gelegt, und ihre Hand ruhte in der freien Hand ihres Vaters.
Sie waren glücklich gewesen, hatten einander vollkommen genügt und andere weder gewollt noch gebraucht. Ihr Leben war erfüllt von ihrer Liebe füreinander und von ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Seide. Das zarte Garn hatte sie in einem Netz umsponnen, das sie wie ein Zauber fest
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