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Der Glanzrappe

Der Glanzrappe

Titel: Der Glanzrappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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gespeist.
    Am Twelve Mile Creek war es ähnlich, nur dessen Wasser war kälter und schwärzer, das Ufer verwilderter und dichter mit robusten Schattenpflanzen bewachsen. Ins Wasser gekippte Bäume reckten ihr Wurzelgeflecht wie riesige Fächer in die Luft, und die knorrigen Wurzelfinger hielten kleine Felsbrocken umklammert. Die ausladenden Stämme des Berglorbeers überkreuzten sich und verflochten sich ineinander, alles erweckte den Eindruck, als hätte eine wilde Natur den Berg so lange abgeriegelt, bis Robey zurückkam.
    Sie ritten weiter, immer höher hinauf, bis zu der Stelle, wo der Fluß Steine und Geröll angespült hatte und früher die Brücke gewesen war. Der pechschwarze Hengst stieg, ohne zu zögern, die Böschung hinab, glitt ins Wasser und durchquerte mit sicherem Tritt die sanfte, kühlende Strömung, die ihm bis an den Bauch reichte.
    Kühle Luft umfaßte sie, als sie den Anstieg fortsetzten, und gegen Abend erreichten sie die alten Felder, wo Königskerzen und Scharfgarbe blühten, und dann kam, in die Berge geschmiegt und von Wacholderbüschen bekränzt, die hohe Wiese, deren nasses Gras im Sonnenlicht aufblitzte. Als sie die Felswände hinter sich ließen und die Wiese betraten, erschien sie ihnen wie das Dach der Welt.
    Als er das Blockhaus endlich sah, kam es ihm kleiner vor als in seiner Erinnerung, und seitdem er weg gegangen war, mußte es heftigen Stürmen standgehalten haben. Die Holzbalken waren rissig und hatten einen silbrigen Glanz, die Dachschindeln waren verschoben und verrutscht, von widrigen Winden gebeutelt. Die Rundhölzer waren abgesplittert, Moos und Efeu wucherten überall. Nirgends sah man einen rechten Winkel. Zwar hatte die Natur es sich noch nicht vollständig zu eigen gemacht, aber insgesamt wirkte das Haus sehr instabil und wackelig.
    Das Grün ringsum war so üppig, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Im Garten, auf den Feldern, auf dem Berg, überall blühte es. Am Hang sprangen Lämmer herum, und steifbeinige Kälber blökten nach ihrer Mutter. Eine Schar Welpen wuselte durch die Wiese. Es war, als hätte seine Mutter Tiere gezüchtet und die Natur vermehrt. Es war, als wäre er in das Reich der Träume zurückgekehrt.
    Er stieg aus dem Sattel und betrat das Haus. Sie sah ihn im Spiegel, als er zur Tür hereinkam, zupfte gerade ihr widerspenstiges Haar zurecht, als erwartete sie Besuch, als hätte sie soeben etwas ganz Neues an sich entdeckt.
    »Ja, wer ist denn da?« fragte sie liebevoll. Sie wußte schon, daß er es war. »Komm doch aus dem Schatten, damit ich dich anschauen kann«, sagte sie, und erst jetzt legten die Hunde die Ohren an und erhoben sich steifbeinig und mit gesträubtem Fell. Sie stießen ein tiefes, heiseres Bellen hervor, sabberten und klapperten mit den Kiefern und kratzten mit den Pfoten über den rauhen Boden, als sie versuchten, ihre schwerfälligen Körper zwischen ihr und ihm auszustrecken. Als sie ihn erkannten, wurden sie kleinlaut.
    »Die wußten genau, daß du kommst«, sagte sie entschuldigend. »Sie wußten nur nicht, wann. Sie sind schon seit Tagen unruhig.«
    Ihr Haar war weiß geworden, und ihr Gesicht war von einer Reinheit, wie man sie hei Kranken und Heiligen und auch vor einem Wetterumschwung am Himmel feststellen kann. Sie bewegte sich so umsichtig wie ein schwebender Naturgeist. Seit er weg war, hatte sie keine Menschenseele mehr gesehen. Sie hatte keine Stimme gehört und auch die eigene St imme so lange nicht mehr erklin gen lassen, außer für einen ganz leisen Ton, gerade laut genug, daß ihn die Tiere wahrnahmen, wenn sie sie zum Melken oder zum Füttern oder von einer Weide zur nächsten rief.
    »Du warst sehr lange fort«, sagte sie. »Bist du wirklich wieder da? «
    S ie berührte sein Gesicht, wie es Blinde tun.
    »Hast du meinen Brief bekommen?« fragte er.
    »Nein«, sagte sie, »er ist noch nicht angekommen, aber er kommt schon noch.«
    In diesem Moment ließ sie die letzte Hoffnung fahren, daß ihr Mann, der Vater ihres Sohnes, noch am Leben war. In diesem Augenblick wußte sie, er würde nicht durch die Tür hereingestapft kommen, würde sie nicht in die Arme nehmen und hochheben.
    Doch schon vor geraumer Zeit hatte sie den Raum des Verlustes und der anhaltenden Stille betreten, und jetzt würde grenzenloser Kummer ihr ständiger Begleiter sein. Viel später würde sie ihm sagen, daß sie schon geträumt hatte, sein Vater sei tot, und würde dann zugeben, daß es kein Schock für sie war, als er

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